Flucht, Vertreibung, Integration: Das Schweigen brechen!

Norden-Tidofeld / Hannover, 02. Oktober 2020

75 Jahre nach Kriegsende: Gnadenkirche Tidofeld gibt Geflüchteten eine Stimme

Endlich das Schweigen brechen und die traumatischen Erlebnisse erzählen: Eigentlich wollte die Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld anlässlich des 75. Jahrestages des Kriegsendes in diesem Jahr Veranstaltungen und Vorträge zu diesem Themenschwerpunkt bieten. Aufgrund der Corona-Pandemie lässt sich dies jedoch nicht in der geplanten Form umsetzen. „Als Plan B gab es vom Verbindungsbüro die Idee, Hörbeiträge zu erstellen, um nichtsdestotrotz über die Themen Flucht und Vertreibung sowie Ankunft und Integration im Gespräch zu bleiben“, berichtet der Leiter der Dokumentationsstätte, Lennart Bohne, im Presse-Gespräch. Und mit Karla Lotze und Ingeborg Kurzewitz fanden sich gleich zwei Zeitzeuginnen, die viele Erinnerungen zu diesem Thema beitragen konnten.

Was tut man, wenn die Kleider am eigenen Leib, das Einzige sind, was einem geblieben ist? Was, wenn das einstige Zuhause zerstört und besetzt ist und einem nur noch die Flucht bleibt? In diesem Jahr jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 75. Mal – und bis heute gibt es Zeitzeugen, die von den Erlebnissen und Erinnerungen jener Tage berichten können.

Mit  zehn von ihnen hat sich Editha Westmann vom Verbindungsbüro der Niedersächsischen Landesbeauftragten für Heimatvertriebene, Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler befasst und ihre Erlebnisse in Hörbeiträgen zusammengefasst. Dabei kommen auch zwei Norderinnen zu Wort, die in Ostfriesland nach ihrer Flucht aus Pommern und Ostpreußen Zuflucht fanden. Ihre Beiträge sind auf der Homepage der Landesbeauftragten abrufbar.

Eine dieser Zeitzeuginnen ist Ingeborg Kurzewitz, die mit knapp zwei Jahren 1945 Zuflucht im Norder Reichshof fand. Dem kleinen Mädchen waren damals nicht einmal mehr ihre Eltern geblieben – doch das erfährt Ingeborg, die damals noch Wiegelis mit Nachnamen heißt, erst als Jugendliche. In Küstrin hatte die Witwe Johanna Friedrich das Kind, das am 31. Mai 1943 in Perwissau in Ostpreußen geboren und Ende 1944 in die Brandenburgische Neumark evakuiert worden war, als Pflegekind zu sich geholt. Sie nahm die kleine Ingeborg an wie ihre eigene Tochter und gelangte mit der eigenen Mutter, ihrem Bruder und dem Kleinkind 1945 bei der Flucht vor der Roten Armee nach Norden, wo Friedrich für die vier ein neues Leben aufbaute.

Im Reichshof konnten sie allerdings nicht bleiben und kamen in einem kleinen Zimmer plus winziger Abstellkammer in der Großen Mühlenstraße unter. Die kleine Ingeborg saß meistens unter dem Küchentisch und hörte den Gesprächen der Erwachsenen zu. Die ersten Kriegsjahre sind für sie und ihre neue Familie besonders beschwerlich, wie im Hörbeitrag von Westmann zu erfahren ist. Dort berichtet Kurzewitz auch von der Geborgenheit, die sie im Flüchtlingslager in Tidofeld erlebte. Zudem erfahren die Zuhörer, dass die inzwischen Jugendliche erst aufgrund der anstehenden Konfirmation erfuhr, dass Johanna Friedrich nicht ihre leibliche Mutter war und welche Schritte sie unternahm, um etwas über ihre Herkunft zu erfahren.

Die Geschichte Kurzewitz schildert das Schicksal eines Waisenkindes, das nicht nur Heimat, sondern auch Eltern verloren hat, anders als Karla Lotze, geborene Müller. Sie berichtet von ihren Fluchterlebnissen aus Schlawe mit acht Jahren und dem Wiedersehen mit ihrem Vater nach Jahren an der Front. Der hatte sie und ihre beiden Brüder sowie die Mutter Ende 1945 auf einer Kartoffelkiste stehend am Bahnhof in Süderneuland in Empfang genommen.

In Lotzes Erzählungen geht es um den Erfindungsreichtum, der in den Jahren nach dem Krieg gefragt war, aber auch um Vorbehalte und Unverständnis für die Erlebnisse und Kultur der aus Pommern geflohenen Familie. Der Kontakt zu den Kindern aus der Nachbarschaft baute sich zwar schnell auf, sei aber beschwerlich gewesen, erinnert sich die heute 83-Jährige. Vielleicht noch beschwerlicher dürfte allerdings die Tatsache gewesen sein, dass in ihrer Familie über die Flucht, den Krieg und den Verlust der Heimat geschwiegen wurde. Ein Schweigen, das die Norderin als Erwachsene brach. Sie thematisierte ihre Erlebnisse nicht nur in der Familie, sondern schildert sie auch in der Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld – ebenso wie Kurzewitz.

Karla Lotzes Erfahrungen mit Flucht, Vertreibung und der Ankunft in Ostfriesland sind schon jetzt auf der Homepage der Landesbeauftragten unter https://lbhs.niedersachsen.de unter dem Titel „Von Pommern nach Ostfriesland – Flucht, Wiedersehen und Neuanfang der Familie Müller aus Schlawe“ zu finden. Noch in dieser Woche sollte auch der Beitrag von Ingeborg Kurzewitz erscheinen und Einblicke in die Schicksale der Heimatvertriebenen.

 

Mit herzl. Dank an den OSTFRIESISCHEN KURIER !