"Wo sind wir?" Ungewohnte Klänge in Tidofeld

Norden-Tidofeld, 15. April 2018

Sonderausstellung in der Dokumentationsstätte: Kunstwerke junger Migranten

Mit einer Vernissage eröffnete der Verein Gnadenkirche Tidofeld e.V. seine neueste Sonderausstellung: Ab sofort werden Bilder, Collagen und Skulpturen junger Migranten in den Räumen der Dokumentationsstätte gezeigt. Zur Eröffnung drängten sich rund 60 Besucherinnen und Besucher im Kleinen Saal, etliche mussten ohne Stuhl auskommen. Erschienen waren auch Menschen aus Eritrea, dem Iran und Syrien, darunter viele der ausstellenden Künstler. Mit einem derartigen Zulauf am Sonntagnachmittag hatte offenbar niemand gerechnet.

Superintendent Dr. Helmut Kirschstein begrüßte als Vereinsvorsitzender die zahlreichen Gäste. "Wo sind wir - eigentlich?", nahm er das Motto der Ausstellung auf. Diese Frage habe manch einer unter der Woche gestellt und sich verwundert die Augen gerieben, als er frühmorgens vom Bombardement westlicher Staaten auf Syrien erfahren habe. Die Welt werde offenbar immer mehr zu einem Ort kriegerischer Geschehnisse, die man bis vor kurzem kaum noch für möglich gehalten hätte. Umso wichtiger sei es, die Frage - wo wir denn eigentlich sind - im Sinne eines Ortes zu beantworten, an dem Frieden und Versöhnung herrschten und die Menschenwürde geachtet werde. So verstehe sich die Dokumentationsstätte Tidofeld als Ort, an dem die Geschichte von Flucht, Vertreibung und Integration der Deutschen aus dem Osten ebenso im Sinne eines Friedensorts beantwortet werde, wie die aktuelle Geschichte der Migranten aus Syrien und dem Iran, aus Eritrea und aus vielen anderen Ländern.

Besonders freute sich Kirschstein über die Musik, die zwei Iraner zur Veranstaltung beitrugen: Siavash Damirian (E-Piano) und Saman Ramezani (Gesang) ließen ungewohnte Klänge auf Farsi durch die Dokumentationsstätte klingen - und stießen auf kräftigen Applaus. Maria Lieck, engagierte Mitarbeiterin der Flüchtlingshilfe, hatte selbst zur Entstehung der Kunstwerke beigetragen und sie zur Ausstellung vermittelt. Sie berichtete vom Werden der Bilder und Skulpturen und betonte den Gedanken der Freiheit: Wie sich der Künstler ohne Druck freiwillig seinem Sujet widme, nähmen auch die Betrachter das Gezeigte in völliger Freiheit auf - zwischen Künstler und Rezipient komme es zu einer freien, auch emotionalen Begegnung, die über ein oberflächliches Treffen hinausginge und besondere Tiefen erreichen könne.

Flucht, Vertreibung und Integration - die Themen der Dokumentationsstätte - werden in der Sonderausstellung lebensgeschichtlich in den Biografien jüngst zugezogener Migranten verankert.

Die sind durchaus abenteuerlich: Merhawi Belay Abraha, Saymon Habtemariam, Habtom Fisseha Gebregergis und drei weitere junge Eritreer landeten in Ostfriesland in einem Haus auf dem platten Land, weit ab von Ortschaften – im Winter. Auch Fisha Habtemechael und die syrischen Familien Makkawi und Abou El Chaar fanden sich an entlegenen Orten nahe der Küste wieder.

Hier entstanden dann nach einigen Monaten in wiederholten gemeinsamen Zusammenkünften die Bilder und Skulpturen der Eritreer.

Die Betreffenden waren vor dem Unrechtsregime, politischer und willkürlicher Verfolgung, sowie dem Zwang zu endlosem Militärdienst und dem Einsatz in Kriegsgebieten aus ihrem Heimatland geflohen. Sie haben nach der lebensgefährlichen Überwindung der Wüste und der Fahrt über das Mittelmeer schließlich Europa und dann Deutschland erreicht und sind nach Ostfriesland verteilt worden.

Worum geht es in ihren Kunstwerken?

Die Kunstwerke zeigen die starke innere Verbindung zu ihrem Herkunftsland und auch Eindrücke von der Flucht: Da ist die eritreische Landschaft und Natur, Tiere, zurückgelassene Menschen, die eigene eritreische Mutter mit dem kleinen Kind auf dem Rücken. Und das Meer, das Schiff, welches „Frieden“ heißt und die Begegnung der Lebewesen wie unter Wasser.

Und dann erscheint auch schon die hiesige Welt: Das Brandenburger Tor, mit goldgelben Strohhalmen des abgeernteten Feldes geschaffen, die Madonna mit Christuskind, der Blick von der Küste hier in Ostfriesland über das Meer nach Norderney und auch Karins Hund „Lea“ und die Treppe im Flüchtlingscamp gehören zu den Motiven.

Ein Haus, das an einen Hof ostfriesischer Prägung erinnert, kommt von Noor aus Syrien und heißt „Haus der Hoffnung“. Der 18 jährige Morybaba taucht in seinem Keller tief in die Welt seiner Bilder ein. Auch zwei syrische Kinder zeigen Bilder ihrer Welt, nachdem sie nun schon mehrere Jahre hier in Ostfriesland sind.

In den zwei von Eritreern, Iranern und Iranerinnen und Deutschen gefertigten Collagen stechen nicht nur die Vielfältigkeit menschlicher Figuren und Köpfe hervor, sondern auch das Kreuz und die geschriebenen Worte: „Wir sind nicht allein, Gott ist bei uns.“ Dabei sind die Mitwirkenden christlichen und muslimischen Glaubens.

Wo sind wir?

Ist das vielleicht die zentrale Frage für die Menschen, die ihre Heimat und ihren Kontinent, ihren Kulturraum verlassen mussten und sich jetzt in zwei schwer zu vereinbarenden Welten wiederfinden? Die innere und äußere Verortung wird unweigerlich zum Thema. Ihre Welt aus dem Herkunftsland ist tief in ihnen verankert und mitgekommen in ihren Herzen, in Erinnerungen, Gedanken, Sorgen …

Das NEUE (Ostfries-) LAND (wie es im Untertitel der Ausstellung heißt) erzeugt immer wieder Verwirrungen. Eine Annährung erfolgt langsam und in Bruchstücken. Die Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld hofft, durch Anerkennung und positive Rückmeldungen zu einem menschenwürdigen Ankommen der Künstler beizutragen. Und die Brücke von den Integrationserfahrungen nach 1945 in die Gegenwart zu schlagen.