Wo Gottesdienst und Menschendienst ineins fallen

Norden, 11. April 2018

Psychologische Beratungsstelle feiert 40. Jubiläum - Gottesdienst und Festvortrag

Kristin Gerner-Beuerle erklärte in wenigen Worten, wie es in ihrer Beratungsstelle in Bremervörde vor zehn, zwölf Jahren anfing: „Eigentlich kann das doch jeder“, hatten sie dort lange gedacht und irgendwann gemerkt, dass das nicht stimmt. Dass man geschulte Leute brauchte, Fachkompetenz, Psychologen, Berater. In Norden hat vor vier Jahrzehnten schon Pastor Albrecht Kramer gemerkt, dass das notwendig ist. Er gehörte am Mittwoch zu den Ehrengästen beim 40.Geburtstag der Psychologischen Beratungsstelle. Viele Fachkollegen und -kolleginnen waren zum runden Geburtstag gekommen, Ehemalige, Freunde, viele, die sich mit der Arbeit der Beratungsstelle identifizieren. Die Einrichtung hat nach Anfängen im Privathaushalt der Kramers und an der Norddeicher Straße inzwischen seit Langem in der Mennonitenlohne 2 ihren festen Platz.

Den Festgottesdienst zur Eröffnung des Jubiläums hatte Superintendent Dr. Helmut Kirschstein zusammen mit Pastor Stephan Bernhardt, dem Vorsitzenden des Diakonie-Ausschusses im Kirchenkreis Norden, sowie Marja Goronzy und Irene Ermisch-Kleemann als Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle gestaltet. Kirschstein nahm in seiner Predigt die Eingangstür der Beratungsstelle – die längst zu einem charakteristischen Markenzeichen geworden sei – zum Ausgangspunkt seiner Ansprache über „offene Türen“, das warme Licht dahinter und das Willkommen für alle, die Hilfe brauchen. Er übertrug eine Erzählung der Apostelgeschichte auf die Arbeit der gegenwärtigen Beraterinnen und interpretierte beides im Sinne von Wertschätzung und vermittelter Menschenwürde. Auch heute gehe es nicht um „Gold und Silber“, sondern um Zuwendung und Zuspruch. Wie der gelähmte Bettler an der „Schönen Pforte“ des Tempels durch Petrus und Johannes Hilfe erfahre, so erhielten Menschen Hilfe, wenn sie durch dieTür der Beratungsstelle treten. „Gottesdienst und Menschendienst gehören von der ersten Generation der Christenheit zusammen“, sagte Kirschstein.

Die Nachfrage nach Hilfe ist groß – das verriet Marja Goronzy später im Gemeindehaus. Früher habe man sofort einen Termin bekommen, „heute müssen Sie bis zu zehn Wochen warten“. Menschen kämen, wenn sie Krisen durchlebten, sei es in der Partnerschaft, im Beruf, innerhalb der Familie, sei es, wenn sie einen schlimmen Verlust erlitten hätten oder von Ängsten gequält seien. Goronzy machte auch deutlich, dass Hilfe suchen nichts mit Versagen zu tun hat: „Es ist normal, dass man auch mal Unterstützung braucht!“

In diesem Sinne haben sich die Beratungsstellen im Laufe der Jahrzehnte entwickelt. Dr. Ute Schulewski von der Beratungsstelle in Leer, die in wenigen Tagen ebenfalls ihren 40. Geburtstag feiert, blickte kurz zurück auf die gemeinsame Vergangenheit. Dass es in den Großstädten vor rund 50 Jahren begonnen habe und dann nach und nach auch auf dem Land die psychosoziale Versorgung besser geworden sei: „Wir sind die Spätgeborenen“, sagte sie mit einem Lächeln und dem Hinweis auf die gute Zusammenarbeit und Vernetzung der Beratungsstellen in Ostfriesland.

Möglich, dass Dr. Schulewski Nordens Bürgermeister Heiko Schmelzle, dessen Grußwort sie besonders hervorhob, deshalb gleich zum Besuch nach Leer einlud. Tatsächlich hatte Schmelzle die Arbeit der Psychologischen Beratungsstelle der Diakonie in Norden nachdrücklich gelobt. Sie sei eine unverzichtbare Anlaufstelle für Menschen in schwierigen Lebenssituationen. Schmelzle erwähnte auch die Präventionsarbeit der Mitarbeiterinnen im Norder Arbeitskreis zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt.

Der Nachmittag im Gemeindehaus gehörte aber vor allem Dr. Joseph Rieforth, selbst psychologischer Psychotherapeut, Kinder- und Jugendlichen-Therapeut und unter anderem auch Leiter des Zentrums für lebenslanges Lernen an der Universität Oldenburg. Rieforth gelang der Spagat, im Rahmen seines Festvortrags „Tiefenpsychologie trifft Systemtherapie“ nicht nur die Fachfrauen und -männer „mitzunehmen“, ihnen Zusammenhänge zwischen verschiedenen Schulen der Psychologie zu verdeutlichen, sondern auch den fachfremden Gästen unterhaltsames Material an die Hand zu geben. „Man kann nichts löschen!“, sagte er zum Beispiel, um zu erklären, dass die Erfahrungen, die ein Mensch in seinem Leben macht, verankert bleiben. Aber man entwickle sich auch weiter: „Man bleibt nicht stehen. Man nimmt was mit.“ Rieforth erklärte anhand der Geschichte des Ödipus, was es mit Angststörungen, mit systemischen und psychodynamischen Hypothesen, Identitäten und verschiedenen anderen Begrifflichkeiten auf sich hat.

Und er unterstrich die Wichtigkeit von Beratungsstellen wie die in Norden. Sie seien Anlaufstellen, es sei einfach, sich Hilfe zu holen. Heute sei die Bereitschaft größer, hier um Unterstützung zu bitten, sagte Rieforth und betonte: „Eine Krise an sich ist nicht schlecht, sie ist es nur dann, wenn ich sie nicht bearbeiten kann.“ Grundsätzlich aber sei sie eine Chance, sich weiterzuentwickeln. Wichtig sei in dem Zusammenhang, nicht immer wieder zu formulieren, was man nicht wolle – Stichwort: „Ich will mich nicht ärgern.“ Das beinhalte nämlich, dass man sich tatsächlich bereits über etwas ärgere. Vielmehr sollte man für sich herausfinden, was man denn tatsächlich wolle. „Wohin soll es gehen?“ Schon vorher hatte Rieforth betont, dass es Ziel sein müsse, ein eigenes Selbst auszubilden: weg von der Vorbestimmung von außen, von Medien, vielerlei Quellen hin zu besagtem Selbst.

Aktuellen wie ehemaligen Mitarbeitenden aus 4 Jahrzehnten wurde zum Dank eine Rose überreicht. Denn personell wie inhaltlich hat die Norder Beratungsstelle im Laufe ihrer 40 Jahre eine sehr lebendige Entwicklung genommen, bei der auch die Angebote immer wieder neu aufgestellt wurden. Irene Ermisch-Kleemann hatte zu Beginn des Nachmittags eine kleine Bilderschau präsentiert mit einem Rückblick auf die unterschiedlichen, an die Bedürfnisse der Zeit und der Gesellschaft angepassten Angebote. Nicht immer sei klar gewesen, ob es überhaupt einen 40. Geburtstag geben werde, hatte schon Kirschstein gesagt: „Aber jetzt gehen wir stramm auf die 50 zu!“

Unter Verwendung eines Artikels aus dem Ostfries. Kurier - mit herzl. Dank!