Auf der Baustelle: „Fresh-X“ für den Kirchenkreis

Hannover / Norden, 08. Juni 2018

Kirchenkreis-Konvent stellt sich in Hannover neuen Formen des Glaubens

„Leben auf der Baustelle“ – 5 Tage lang kamen für den Konvent des Kirchenkreises Norden Leben und Lernen buchstäblich zusammen: Das Hotel in Hannover, in dem die 21 Geistlichen übernachteten, lag unmittelbar an einer lärmenden Straßenbaustelle, und auch sonst brummte hier das pralle Leben. Menschen aus aller Herren Länder und verschiedenster Muttersprachen, Vergnügungssuchende und Flaneure machten an diesen lauen Frühsommer-Abenden die Nacht zum Tage. Inhaltlich passend, ging es um die „Baustelle Kirche“: „Fresh Expressions of Faith“ (frische Lebensäußerungen von Kirche), Impulse aus der Anglikanischen Kirche Englands und ihre deutsche Adaption, wurden auf ihre Tragfähigkeit für die eigene Kirchenentwicklung durchgespielt.

Vorbereitet hatte den alle zwei Jahre stattfindenden Kirchenkreis-Konvent eine kleine Arbeitsgruppe unter Leitung von Pastor Stephan Achtermann. Pastorin Dr. Sandra Bils und Diakon Rainer Koch vom Haus kirchlicher Dienste, Hannover, erwiesen sich schnell als überaus kompetente Leitung: Sie entwickelten ein so abwechslungsreiches wie ambitioniertes Programm. Ziel der Veranstaltung war keineswegs das Überbringen eines „neuen“ Kirchenbildes. Es ging vielmehr um die Vermittlung einer bestimmmten Haltung der Offenheit gegenüber anderen, ungewöhnlichen oder überraschenden Visionen von Kirche.

Der Ansatz zu den „Fresh-X“, wie die Impulse abgekürzt werden, wurde aus der schwierigen Gesamtsitution der Anglikanischen Kirche um das Jahr 2004 entwickelt. Das einbrechende Beteiligungsverhalten und der permanente Rückgang der Kirchenmitgliedschaft verlangte geradezu nach neuen Ausdrucksformen – ohne Denkverbot. Vor allem wendet man sich Menschen zu, die der Kirche den Rücken gekehrt haben oder überhaupt noch nie eine Beziehung zur Kirche hatten. Zentrale Aspekte des Aufbruchs, der mittlerweile längst nach Deutschland herübergeschwappt ist, zeichnen die „Fresh-X“ als kontextuell (hinhörende Kirche im Miteinander der Gesellschaft), missional (relevante Kirche, die Gottes Wirken sichtbar machen möchte), transformierend (lebensverändernde Kirche, die sich auf die Gemeinschaft und den Nahraum auswirkt) und ekklesial aus (Kirche, die bewusst mit den und für die Menschen da ist).

Dass ein neuer Aufbruch auch schmerzlich sein kann, erfuhren die Teilnehmenden bei ihrer Exkursion nach Vahrenwalde: Dort wurde das energetisch wie räumlich ungünstige alte Kirchengebäude zugunsten eines funktionalen Neubaus abgerissen. Tatsächlich werden nun vergleichsweise viele Menschen in diesem Stadtteil Hannovers erreicht. Die Vielfalt der kirchlichen und religiösen Landschaft mit ihren Brüchen und Umbrüchen zu entdecken – dazu schloss sich eine „geistliche Stadtführung“ an: Pastor Ingo Wiegmann (Hage), der in Hannover aufgewachsen ist und die kirchliche Szene seinerzeit „von innen heraus“ wahrnehmen konnte, führte die Konventsteilnehmer zu landeskirchlichen wie esoterischen Locations, aber auch an teils verborgene Orte kirchlichen Lebens – etwa zum Container einer christlichen Initiative, die sich seit Jahrzehnten im Brennpunkt der Drogen- und Prostitutions-Szene den Dropouts der Gesellschaft widmet und ihnen mit bewundernswertem Durchhaltevermögen Menschenwürde vermittelt. Um das Hineinhören in die reale Welt und die Wahrnehmung ihrer Menschen weiter zu fördern, regte die Konventsleitung zu „Straßenexerzitien“ an: Mehrere Stunden lang streiften die Teilnehmenden allein durch teils unbekannte Straßen und Viertel der Stadt, um Ungewohntes zu ergründen und in Menschlich-Allzumenschlichem womöglich dem verborgen wirkenden Gott zu begegnen.

Besondere kirchliche Orte wurden dann auch für Otfriesland und den Kirchenkreis Norden durchgespielt: Welche Chancen hätte die Kirche im Kino – welche Möglichkeiten bietet der Lütetsburger Park, der dörfliche Fußballplatz oder das Einkaufszentrum Norder Tor? Anregungen vermittelten Kurzfilme zu außergewöhnlichen Initiativen im Sinne der „Fresh-X“: der christliche Aufbruch im entkirchlichten Neubaugebiet einer norddeutschen Kleinstadt, die Neubelebung eines Bauernhofs in Schwaben durch eine christliche Wohngemeinschaft, die gemeinwesen-orientierte Initiative zur kirchlichen Belebung des Zentrums von Karl-Marx-Stadt/Chemnitz, und das bunte Pilotprojekt einer Art Gemeindegründung in Köln.

Eine weitere Initiative der besonderen Art konnte wieder mit eigenen Sinnen vor Ort wahrgenommen werden: Der Konvent besuchte den berühmten „EXPO-Wal“, der nach Ende der Weltausstellung vom Verein der Inneren Mission übernommen wurde und seit vielen Jahren vom landeskirchlichen Pastor Heino Masemann und seinem Team mit gottesdienstlichem Leben erfüllt wird. An Sonntagen kommen regelmäßig 300 bis 500 Menschen – am Mittwochabend liegen die Zahlen deutlich darunter, richtet sich der einstündige Gottesdienst dann doch vorwiegend an das Mitarbeiterteam. Nach einer ausführlichen Einführung erlebte der Konvent diese Abendmahlsfeier denn auch mit kritischer Aufmerksamkeit – Freude über Gelungenes und kontroverse Diskussionen waren die Folge.

Uneingeschränkt dankbar war der Konvent hingegen für die kurzen Andachten, mit denen die beiden Leitenden jeden Morgen eröffneten und die Woche anhand einer Jesus-Geschichte (der Gelähmte wird durch die Decke herabgelassen) biblisch prägten. Auch die Abende wurden meistens gemeinsam beschlossen – im Straßencafé „auf der Baustelle“, wenn die Arbeit ruhte: im Straßenbau wie im Konvent. Ein besonders wichtiger Effekt, dass durch so viel gemeinsame Zeit das Verständnis und die Sympathie füreinander wuchs!

Konvent 2018: Was bleiben wird, ist das Bild vom „Mischwald“! Die Zeit kirchlicher Monokultur ist (längst) vorbei, vielfältige Formen von „Kirche“ sind nebeneinander und miteinander notwendig und erwünscht. Wegweisend ist auch der typische Ansatz jeder Form von „Fresh-X“: nicht attraktional zu arbeiten (durch – auch ganz neue – Angebote, die Menschen zur Kirche einladen), sondern missional (sich auf die Menschen einlassen, zu ihnen gehen und mitten unter ihnen gemeinsam Neues entwickeln). Wichtig ist, dass der Auftrag die Gestalt der Kirche bestimmt (nicht etwa umgekehrt) und die Form dem maßgeblichen Inhalt folgt. Dann kann – und dann wird Neues wachsen. Neue Ausdrucksformen von Kirche, die noch näher bei den Menschen ist. Dafür lohnt es sich, Baustellen zu ertragen.