Tidofeld: Sensibilisierung der Mehrheitsgesellschaft

Norden-Tidofeld, 15. März 2018

Einblicke in Geschichte, Identität und Integration der Russlanddeutschen

Wenn Russlanddeutsche ihre eigene Identität angeben, dann sehen sie sich selbstverständlich nicht als Russen – aber oft an erster Stelle auch nicht als Deutsche. Sondern als „Christen“! Das war eine der Überraschungen, die Kornelius Ens, Leiter des Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte (Detmold), bei seinem spannenden Vortrag in der Gnadenkirche Tidofeld den zahlreichen Zuhörern eröffnete. „Deutsch, aber anders!“ hieß der erste Vortrag einer Reihe, die sich durch das ganze Jahr 2018 zieht und u.a. auch die Integration der vietnamesischen Boatpeople beleuchten wird.

Lennart Bohne, neuer Pädagogischer Leiter der Dokumentationsstätte, hatte den Vortrag und die Veranstaltungsreihe organisiert. Deren Verbindung mit dem Projekt „Partnerschaft für Demokratie“ im Landkreis Aurich unterstrich auch Dr. Martin Gohlke (KVHS Norden) in seinem kurzen Grußwort, in dem er den Tidofelder Organisator ausdrücklich lobte. Bohne gestand allerdings freimütig, dass seine eigenen Einblicke in das Schicksal der Russlanddeutschen bisher äußerst begrenzt waren.

Das dürfte sich nach diesem Abend deutlich geändert haben: Der Referent, selber Nachkomme russlanddeutscher Eltern, die 1971 in die Bundesrepublik kamen, entfaltete ein faszinierendes Spektrum zu historischen Hintergründen und beklemmenden Lebensschicksalen – und damit zur „Integration und Identitätsbildung der Deutschen aus Russland“, wie es im Untertitel zur Veranstaltung hieß.

1763 hatte Zarin Katharina die Große deutsche Siedler ins Land gerufen. Die Befreiung von der Militärpflicht und die zugesagte Religionsfreiheit zog vor allem Mennoniten – eine klassische „Friedenskirche“ – und süddeutsche Pietisten an, die beide in ihrer ursprünglichen Heimat unterdrückt wurden. 1832 institutionalisierten sich aber auch die evangelischen Lutheraner, die einen besonders starken Einfluss auf die russische Kultur nahmen, bis hin zur religiös bestimmten Weltliteratur Dostojewskis. Deutschland sei erst seit etwa 80 Jahren zum „überhöhten Sehnsuchtsort“ der Deutschstämmigen geworden. Das hänge mit einer Geschichte katastrophaler Leiden und unmenschlichster Unterdrückung zusammen. Die allermeisten Russlanddeutschen hätten keine nationalsozialistische Lebenserfahrung, sondern brächten Erinnerungen an den GULAG und das stalinistische Unrechtsregime mit. Ens unterstrich das außergewöhnliche Faktum, dass durch die rund 2,4 Mio. russlanddeutschen Bundesbürger der Stalinismus einen erheblichen Teil der deutschen Erinnerungskultur ausmacht.

Erstaunlich auch, dass die allermeisten Russlanddeutschen im Laufe der Jahrzehnte gar nicht nach Deutschland, sondern in die „beiden Amerikas“ ausgewandert sind: vor allem Mennoniten, die in der Weite Süd- und Nordamerikas (Paraguay, USA, Kanada) die verlorengegangene Freiheit wiederzuerlangen suchten. Einer ersten Welle Ende des 19. Jahrhunderts aufgrund nationalistischer Russifizierungen folgte eine zweite Welle Ende der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts, die dem stalinistischen Druck geschuldet war. Denn 1928 wurde die letzte deutschsprachige Bibel „legal“ in Russland gedruckt – alle weiteren kamen aus dem Untergrund. Dass es noch im 20. Jahrhundert eine „lebendige deutsche Hochkultur“ in der UdSSR gab mit hunderten deutscher Schulen, Theater und Konzertsälen, spiele in der jetzigen Erinnerungskultur der Russlanddeutschen faktisch keine Rolle mehr. Die beginne in der Regel erst Ende der 30er Jahre, als 1937/38 etwa 55.000 dem staatlichen Morden zum Opfer fielen, 1941 dann weitere 70.000 Russlanddeutsche „als Christen“ vom atheistischen Regime hingerichtet wurden. Alle, die etwa 1970 bis 1985 die UdSSR Richtung Deutschland verließen, kamen denn auch als religiös Verfolgte. Die große Masse der nach 1985 Auswandernden – über eine Million Menschen – hatte diesen starken christlichen Bezug jedoch nicht mehr.

Insgesamt stellen „die“ Russlanddeutschen keine homogene Gruppe dar, so der Referent. Nicht zuletzt die unmenschliche Deportationspraxis des Sowjetregimes sorgte dafür, dass die Deutschstämmigen in alle Teile der Sowjetunion auseinandergerissen wurden. Kornelius Ens erhob in diesem Zusammenhang den Vorwurf der sprachlichen wie der „kulturellen Enteignung“. Die massiv betriebene Entfremdung von der eigenen Kultur führte dazu, dass die Russlanddeutschen „geistig kleingehalten“ wurden und die meisten der nach Deutschland Übersiedelten „absolut bildungsfern“ waren. Dass manche von ihnen überhaupt kein Deutsch mehr sprechen können, ist also ein später Triumph des Unterdrückungs-Regimes, spricht aber keineswegs gegen die deutsche Herkunft.

Umso wichtiger blieb für sie der christliche Glaube, zumeist in einer ganz eigenen Ausprägung: In der Sowjetunion waren die russlanddeutschen Christen als solche in den Untergrund gegangen, hatten ihr Christsein als Adventisten, Mennoniten, Lutheraner, Baptisten, Pfingstler und Katholiken in einer außergewöhnlich einträchtigen Ökumene miteinander gelebt, wobei die Gottesdienste häufig von Frauen geleitet wurden. Es kam zu sogenannten „Waldgottesdiensten“, die in aller Heimlichkeit in der freien Natur stattfinden mussten. Die jahrzehntelange Verfolgung führte dabei aber auch zum Anwachsen apokalyptischer Strömungen. Massive Diktatur-Erfahrungen machten den Weltuntergang spürbar und verfestigten diese Haltung immer mehr, die sich auch in einer Ablehnung aller weltlichen Freuden manifestierte: Tanz und Theater, Kartenspiel und Geselligkeit durften nicht sein, und alles, was an Lebensfreude erinnerte, wurde abgelehnt. Die weitgehend pessimistische Lebenseinstellung korrespondierte einer tiefen Sehnsucht nach der „ewigen Heimat“. Sofern diese Sehnsucht dann auf das reale Deutschland abfärbte, wurden die Träume häufig enttäuscht.

Umso bedeutsamer ist es, dass sich die allermeisten russlanddeutschen Gemeinden mittlerweile von der Kleidungshomogenität der „Frommen“ (Kopftuch, lange Röcke) entfernt haben. Der Referent lobte die "bemerkenswerten Integrationsprozesse", nicht zuletzt der russlanddeutschen Christen: Die meisten brauchen zu ihrer Sicherheit kein „religiös überhöhtes Kleidungsstück“ mehr. Ihr Hauptaugenmerk richten viele nun offenbar auf die Unterstützung anderer, denen es wohl ähnlich schlecht gehen mag wie den deutschstämmigen Vorfahren – so betreiben Russlanddeutsche eine diakonische Einrichtung, die nach Bethel mittlerweile zur zweitgrößten diakonischen Institution geworden ist. Statistisch gehören 52 % der russlanddeutschen Bundesbürger der evangelischen Kirche an, 15 % sind katholisch, zusammen 8 % gehören den Baptisten und den Mennoniten an, 25 % allerdings auch der orthodoxen Kirche (letzte erreichbare Zahlen von 2005).

Warum das alles wichtig ist? Kornelius Ens betont, dass man Menschen nur verstehe, wenn man etwas von ihnen wisse, dass man ihr Verhalten nur begreifen könne, wenn man um ihr Schicksal weiß. Und so zielt sein ganzer engagierter Vortrag – wie auch das Museum, dessen Leiter er ist – auf die Sensibilisierung der Mehrheitsgesellschaft: sensibel zu werden für eine große Bevölkerungsgruppe wie für das einzelne Schicksal ehemals verfolgter und unterdrückter Menschen, die in diesem Falle „deutsche Migranten“ sind.