"Laut sagen, was verkehrt ist - ohne Angst!"

Norden-Tidofeld, 22. Oktober 2019

Seenotrettung: Kapitän und Menschenrechtsaktivist Stefan Schmidt in Tidofeld

„Retten statt reden“ – unter diesem provozierenden Motto steht die aktuelle Fotoausstellung in der Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld, die sich mit der „zivilen Seenotrettung an Europas Grenzen“ auseinandersetzt. Im „Begleitprogramm“ stand jetzt ein Vortragsabend unter derselben Überschrift. Dazu hatte die Dokumentationsstätte den ehemaligen Kapitän Stefan Schmidt eingeladen, der 2004 mit der „Cap Anamur“ selbst als Retter auf dem Mittelmeer aktiv wurde. Der mittlerweile 78-Jährige ist Mitbegründer des Vereins „borderline europe – Menschenrechte ohne Grenzen e.V.“ und arbeitet ehrenamtlich als Beauftragter des Landes Schleswig Holstein für Flüchtlings-, Asyl- und Zuwanderungsfragen.

Der Zuspruch zu dieser Veranstaltung war groß: Rund 80 Interessierte hatten sich eingefunden. Zur Eröffnung skizzierte Superintendent Dr. Helmut Kirschstein als Tidofelder Vereinsvorsitzender christliche Perspektiven auf die Seenotrettung im Mittelmeer. Er schlug damit einen Bogen vom kürzlichen „Männergottesdienst“ in Ludgeri, bei dem bereits über 300 Euro für das von der EKD organisierte Rettungsschiff gesammelt wurden. Lennart Bohne, Leiter der Dokumentationsstätte, verband die Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten mit der erzwungenen Migration, die auch heute Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat bewegt. Anschließend gin er insbesondere auf die Geschichte der Seenotrettung und zivilen Seenotrettung ein, um die aktuelle Situation im Mittelmeer zu verdeutlichen.

Daran knüpfte der Referent des Abends an: Stefan Schmidt stellte sich als Kind einer Flüchtlingsfamilie vor. Mit ihr musste er 1944 als Dreijähriger seine Heimatstadt Stettin vor der anrückenden Roten Armee verlassen. Seine Ausbildung zum Kapitän vollzog er „von der Pieke auf“, bis er schließlich sein Kapitänspatent an der Seefahrtsschule in Lübeck erwarb. Wenn er nicht zur See fuhr, war er unter anderem als Reederei-Inspektor tätig, später arbeitete er als Dozent für Schiffssicherheit an der Seemannsschule in Travemünde. Da er eine Zeitlang auch eine Seemannsschule im Südpazifik leitete, vertrat er das drittkleinste Land der Erde, Tuvalu, als Honorarkonsul in Deutschland. Dadurch kam Schmidt mit Elias Bierdel in Kontakt, der damals Vorsitzender des „Komitee Cap Anamur“ war. 2004 wurde unter Schmidts Leitung ein Frachter für 1,8 Mio. Euro aus Privatspenden zu einem Hilfs- und Hospitalschiff umgebaut. Der Kapitän übernahm einen ersten Hilfseinsatz vor Westafrika. Ohne dass eine derartige Rettungsaktion beabsichtigt gewesen wäre, traf die Cap Anamur zwischen Lampedusa und Malta „zufällig“ auf 37 teils entkräftete, dicht in ein Schlauchboot gedrängte Männer, die weder über Trinkwasser noch Nahrung verfügten. Der Motor war ausgefallen, die Kammern verloren Luft und das Boot drohte zu kentern. Schmidt nahm die Männer an Bord. Der von ihm angesteuerte Hafen verweigerte allerdings die Einfahrt – ein ähnliches Schicksal, wie es der deutschen Kapitänin Carola Rackete im Sommer 2019 widerfuhr.

Andere Häfen in erreichbarer Nähe verhielten sich ebenso. Mehrere Tage umkreiste das italienische Militär das Rettungsschiff. Die humanitäre Situation an Bord wurde immer dramatischer. Nach fast dreiwöchiger Blockade drohte Schmidt, einen internationalen Notfall aus der Sache zu machen, und die Cap Anamur durfte schließlich in den sizilianischen Hafen einlaufen. Unter großer Begleitung öffentlicher Medien – ein mitgereister Kameramann wollte die Cap Anamur ohnehin als „gläsernes Schiff“ präsentieren – wurden Bierdel als Leiter der Organisation, Kapitän Schmidt und sein Erster Offizier Daschkewitsch fünf Tage lang in Haft genommen und angeklagt. Unglaublich: Elias Bierdel kam zusammen mit zwei Mördern in eine Einzelzelle. Doch die Unterstützung in Italien war insgesamt „riesig“.

Der Referent vermutete, dass der dritte Verhaftete nur deshalb ins Gefängnis kam, „weil man in Italien ab drei Personen eine Bande ist“, so dass die Anklage auf „bandenmäßiges Verhalten in einem besonders schweren Fall“ lauten konnte. Der damalige deutsche Innenminister Otto Schily und sein italienischer Kollege wollten unbedingt einen „gefährlichen Präzedenzfall“ verhindern. So dauerte der Prozess ganze fünf Jahre. Monatlich mussten sich die Angeklagten auf Sizilien einfinden. Am Ende stand für alle Drei der Freispruch. Das Schiff allerdings wurde erst spät freigegeben, unter der Auflage, es wieder zum Frachter umrüsten zu müssen.

In der Folge kam es zu zwei langen Fernsehberichten, in denen „Panorama“ die gesamte Aktion diffamierte. Bierdel und Schmidt erwirkten zu 19 Punkten des Reports eine Richtigstellung, die dennoch nicht gesendet wurde. Andererseits brachte das veranstaltete Spektakel dem heute 78-jährigen die Freundschaft von Nobelpreisträger Günther Grass ein. Hinzu kamen zahlreiche Ehrungen: Schmidt erhielt den Menschenrechtspreis der Stiftung ProAsyl und wurde mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte ausgezeichnet. Eigentlich sei sein Handeln eine Selbstverständlichkeit gewesen: Beim Seerecht handle es sich um ein „Völkergewohnheitsrecht“. Ein Kapitän sei dazu verpflichtet, jeden Menschen, den er in Seenot vorfindet, „zu retten und an einen sicheren Platz zu bringen“. Das italienische Gesetz stehe nicht über dem internationalen Seerecht, so die Überzeugung des streitbaren Seemanns.

Noch auf dem Schiff hatte er seinerzeit als Kapitän einen gemeinsamen Gottesdienst für die geretteten 27 Muslime und 10 Christen gefeiert – „das ging problemlos miteinander“. Heute engagiert er sich u.a. beim „Requiem für die an den Grenzen Europas Gestorbenen“, das in diesem Jahr bereits zum 10. Mal veranstaltet wird. Sein Rat: „Laut sagen, was verkehrt ist – und keine Angst haben!“

Stefan Schmidt stellte eine ausgezeichnete Zusammenarbeit der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) fest. Das unterstrichen weitere Kurzberichte von Menschen, die sich in Norden für die Flüchtlingsrettung im Mittelmeer engagieren: Der Künstler Rainer Willmer von der Organisation „Sea-Eye“ kam ebenso zu Wort, wie der Allgemeinmediziner Michael Lübbers aus Marienhafe, der von seinen beiden Rettungseinsätzen auf der Sea-Watch III berichtete. Für den Kirchenvorstand Ludgeri berichtete Herma Heyken vom aktuellen Stand kirchlicher Bemühungen, gemeinsam mit zahlreichen Hilfsorganisationen ein eigenes Rettungsschiff auf den Weg zu bringen. Nachdem die Stadt Norden sich kürzlich ihrerseits zum „Sicheren Hafen“ erklärt hat, damit allerdings keine finanziellen Verpflichtungen eingehen mochte, stand am Ende der Veranstaltung der Appell, die angestrebten 5.000 € durch Spenden des gemeinsamen Bündnisses aufzubringen. Die große Beteiligung und der inhaltliche Zuspruch an diesem Abend stimmen auch für dieses Projekt hoffnungsvoll.