Versöhnungsbotschaft vor 20.000 indischen Christen

Norden / Delhi / Ranchi, 10. Juli 2019

100 Jahre Autonomie: Norder Superintendent besucht indische Gossner-Kirchen

Norden / Delhi / Ranchi, Juli 2019 - Indien ist eine Herausforderung – zumal in Zeiten des Monsuns. Das feuchtwarme Sauna-Klima mit Temperaturen über 40 Grad war aber nur eine der Herausforderungen, die der Norder Superintendent Dr. Helmut Kirschstein dort zu bewältigen hatte. An der Spitze einer 8-köpfigen Delegation der Gossner Mission bereiste er zum ersten Mal den asiatischen Subkontinent. Kompetente Unterstützung fand er durch Pastor i.R. Jörg-Michael Hess aus Rödinghausen (Ostwestfalen), ebenfalls Gossnersches Vorstandsmitglied und einer, der sich bestens auskennt: Sein Großvater arbeitete schon für die Gossner Mission in Indien, seine Mutter wurde hier geboren. Auch ein weiterer Pastor, zwei Journalisten und der Tropenmediziner Dr. Bernhard Thimm verstärkten die Reisegruppe. Und mussten sich alle erst akklimatisieren. Aber der klimatisch ungünstige Zeitpunkt ließ sich nicht ändern: In diesen Tagen jährt sich für die evangelisch-lutherische Gossner-Kirche in Indien der 100. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit.

Am 10. Juli 1919 hatte eine indische Synode die Selbständigkeit erklärt – notgedrungen, aber von deutscher Seite befürwortet: Nachdem die deutschen Gossner-Missionare während des 1. Weltkriegs inhaftiert und deportiert worden waren, verwies sie die englische Kolonialmacht anschließend endgültig des Landes. Da die indischen Christen evangelisch-lutherisch bleiben und sich nicht der anglikanischen Kirche anschließen wollten, wagten sie als erste evangelische Kirche der südlichen Hemisphäre den Weg in die Autonomie. Erfolgreich, und bis heute von der deutschen Gossner Mission partnerschaftlich unterstützt!

Ein historisches Ereignis also, das schon ein besonderes Fest wert ist. Und eben dazu war die Delegation der Gossner Mission eingeladen. Die eigentliche Herausforderung lag in einem wichtigen Detail: Vor 42 Jahren hatte sich die Nordwest-Kirche (North Western evangelical lutheran Gossner Church, NWGELC, 128.000 Mitglieder) von der weit größeren Gossner evangelical lutheran Church (GELC, ca. 500.000 Mitglieder) abgespalten. Alle Einigungsbemühungen scheiterten. Die Unversöhnlichkeit geht manches Mal durch Dörfer und Städte, ja durch Familien. Ausgerechnet der kleinere Partner feierte jetzt das historische Datum, der größere wird erst im Oktober bei günstigeren Wetter- und Reisebedingungen eine weitaus größere Delegation empfangen. Wie also den eigentlichen Jahrestag feiern, ohne den größeren Partner zu verprellen?

Auf alle Fälle passte es, dass in Person von Dr. Kirschstein „nur“ der Stellvertretende Vorsitzende der Gossner Mission zu den Feierlichkeiten der „kleineren“ NWGELC anreiste. Aber was heißt hier „klein“? Die Nordwest-Kirche lieferte eine logistische Meisterleistung.

Auf dem Weg zum Veranstaltungsort nahe der Millionenstadt Ranchi ist es dem Norder Superintendenten vorbehalten, neben Bischof Dular Lakra im Auto Platz zu nehmen. Der Konvoi passiert mehrere Ehrenpforten in Dörfern und Städtchen. Kurz vor dem Ziel tauchen plötzlich unzählige Motorräder und -roller auf. Die Jungen und Mädchen haben Fahnen dabei, die vom 100. Jahrestag künden. Sie umrahmen den Konvoi und begleiten ihn aufs Festgelände. Dessen Ausmaße rauben den Gästen buchstäblich den Atem. Riesige Zelte wurden hier errichtet. Menschen allüberall. Aussteigen, Hände schütteln, Tänze, Musik, feierliche Begrüßung. Kameras laufen, Smartphones werden empor gereckt. Drohnen professioneller Kamerateams nehmen zusätzlich jeden Schritt der Gäste auf und übertragen das Geschehen auf riesige Bildschirme.

Gleich zu Beginn gilt es, einen Gedenkstein zu enthüllen: „100 Jahre autonomes Jubiläum“, steht darauf in deutscher Sprache. Die Bischöfe, Dr. Kirschstein und Pastor Hess durchschneiden das rote Band, die Vorhänge werden zur Seite gezogen. Die Deutschen staunen nicht schlecht, dass jeder einzelne von ihnen hier mit seinem Namen in goldenen Lettern verewigt ist.

Auf der riesigen Bühne dann die typisch herzliche Begrüßung: Allen Ehrengästen werden nach traditionellem Ritus die Hände gewaschen, dann bekommen sie einen Blumenkranz umgehängt. Der Festgottesdienst und die gesamte Veranstaltung werden von Tänzen und Gesängen durchzogen: rhythmisch, bunt, mitreißend. Und alles in der Tradition der indischen Ureinwohner: Gossners Missionare hatten sich den Ärmsten der Armen zugewendet, den „Adivasi“, die für viele im hinduistischen Kasten-System bis heute „unberührbar“ sind. Hier feiern also jene, die in dem riesigen Land häufig als „Untermenschen“ gelten. Als Christen wissen sie von Gottes Wertschätzung und geben die erfahrene Menschenwürde an andere weiter. Besonders berührend, bei diesem Ereignis Luthers Hymne „Ein feste Burg ist unser Gott“ zu hören – das Freiheitslied der Reformation, gesungen in der Eingeborenensprache „Oraon“.

Dr. Helmut Kirschstein ist eingeladen, die Festpredigt zu halten. Vor 20.000 Menschen beschwört er den einigenden Geist des gemeinsamen Gründungsvaters Johannes Evangelista Gossner herauf und ruft beide Gossner-Kirchen zu neuer Einigkeit auf: Er freue sich, die leitenden Bischöfe beider Kirchen heute so einträchtig Seite an Seite zu sehen. „Ich bin sicher, dass eine unendliche Freude im Himmel und auf Erden herrschen wird, wenn die Gossnerschen Christen Hand in Hand in eine gemeinsame Zukunft gehen!“

 

  • HINTERGRUND-INFO:

    Die in Berlin beheimatete Gossner Mission ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts eng mit Ostfriesland verbunden, wird aber von regionalen Kreisen in ganz Deutschland getragen. 2009 wurde der Norder Superintendent Dr. Helmut Kirschstein erstmals ins Kuratorium gewählt. Seit 2016 ist er auch Mitglied im Vorstand und Stellvertretender Vorsitzender. Mit der Hannoverschen Landeskirche fördern auch andere evangelische Landeskirchen (vor allem EKBO-Berlin, Lippe, Westfalen) das von Johannes Evangelista Gossner (1773-1858) ins Leben gerufene Werk. Die Gossner Mission unterstützt Bildung und Ausbildung, Gesundheit und Ernährung, Menschenrechte und christliche Mission. Sie fördert insbesondere Kinder, Jugendliche und Frauen in ihren Partnerkirchen in Indien, Nepal, Sambia und seit 2016 durch den Einsatz des Norder Freundeskreises auch in Uganda. 2018 wurde in Norden bereits der 2. Ostfriesische Gossner-Tag gefeiert – mit dem gemeinsamen Tanz von Ostfriesen, Ugandern und Indern auf dem Norder Marktplatz.