Heimat: Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies

Norden, 02. November 2019

Ludgerikirche: Festakt zum 100-jährigen Jubiläum des Heimatvereins Norderland

Vielleicht wusste mancher am Ende gar nicht mehr, was er denn nun glauben sollte. Heimat, hatte Superintendent und Gastgeber in der Ludgerikirche, Dr. Helmut Kirschstein, angedeutet, „echte“ Heimat könne es für Menschen auf der Erde gar nicht geben. Menschen seien vielmehr prinzipiell erst einmal heimatlos und auf der Suche, die Sehnsucht nach dem Paradies könne hier nicht gestillt werden. Dr. Thomas Krueger, Geschäftsführer des Niedersächsischen Heimatbundes, zitierte aber wenige Minuten später den Philosophen Novalis. Der habe gesagt: „Wohin wir auch gehen, wir gehen immer nach Hause.“ Frage: Ist das Zuhause Heimat? Oder ist Heimat gar, wie es David Gronewold, Vorsitzender des Heimatvereins Norderland, zu Beginn seiner Rede in den Kirchenraum warf, ein „verbrannter Begriff?“

100 Jahre Heimatverein Norderland – das hatte offenbar allen Festrednern (neben den Genannten sprachen Teemuseumsleiter Dr. Matthias Stenger und Bürgermeister Heiko Schmelzle) vorab so richtig zu denken gegeben. Was ist das für ein Verein, was läuft da überhaupt und, das fragte Gronewold gleich mal stellvertretend, braucht man ihn noch? Der Vereinsvorsitzende machte keinen Hehl daraus, dass der Verein in seinen 100 Jahren dunkle Seiten erlebt habe. Die dürfe man nicht unterschlagen. Gronewold lehnte sich an den Humanisten Wilhelm von Humboldt an: „Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft.“ Notwendig sei ein Bewusstsein für das kulturelle Selbst. Die Heimat, „in der wir unsere Wurzeln haben“, müsse differenziert betrachtet werden, dazu gehörten dunkle und helle Seiten gleichberechtigt nebeneinander. Im Heimatverein sei es möglich, eigene kulturelle Wurzeln zu leben und gleichzeitig Neues als interessante Bereicherung zu empfinden. Der Heimatverein Norderland sei eingebunden in ein enges Netzwerk der Stadt, das Zusammenleben entwickle und fördere, führte Gronewold weiter aus.

Dr. Matthias Stenger verwies auf die große Bedeutung des Ehrenamts im Verein, es sei deren Kraft und Rückgrat. Das Museum, dessen Träger der Heimatverein bekanntlich ist, hat, das machte Stenger deutlich, durchaus auch schwere Jahre und Existenznöte hinter sich. Mittlerweile dank Neuausrichtung und Kooperation mit der Stadt auf soliden Füßen, schaut es nach Stengers Worten gerade wegen seiner Unterstützer und Helfer optimistisch in die Zukunft: steigende Besucherzahlen und in naher Zukunft zusätzliche Ausstellungsfläche.

Heimat, Heimatverein – seine Geschichte ist auch eingebettet in die Geschichte anderer Heimat- und Kulturvereine Niedersachsens. Dr. Thomas Krueger blickte deshalb in seinem Festvortrag von außen auf die Thematik. Heimat sei ein emotional aufgeladener Begriff, sagte er und „bedeutet für jeden etwas anderes.“ Er zitierte zahlreiche Quellen zum Thema – auch andernorts arbeitet man sich an diesem geschichtsbeladenen Wort offenbar immer wieder ab. Was Krueger wie alle anderen am Rednerpult deutlich machte: Was zu bestimmten Zeiten und leider auch aktuell immer wieder Leute versuchen, nämlich Heimat als Abgrenzungsbegriff hinzustellen, als gelte es, damit deutsche Kultur zu verteidigen, zu schützen, eben abzugrenzen – genau das stellt sie nicht da, und genau das will auch kein Heimatverein. Vielmehr die eigene Kunst und Kultur pflegen, regionale Identität leben und fördern und aus diesem Bewusstsein heraus offen sein für Neues. Heimat müsse weiter entwickelt werden, sagte Krueger und Menschen, die vertrieben worden, die geflüchtet seien, müsse geholfen, ihnen müsse angeboten werden, sich eine neue Heimat zu erwerben. „Wir bestimmen, wie wir leben wollen und müssen uns mit unseren Heimaten auseinandersetzen.“

Das hatte zu Beginn des Festaktes in der Ludgerikirche, den Thiemo Janssen an der Orgel mit Bachs Toccata C-Dur umrahmte, schon Hausherr Dr. Helmut Kirschstein getan, der Heimat als „großen, viel geehrten und oft entehrten Begriff“ beschrieben hatte. Man dürfe „Heimat“ nicht überhöhen, warnte er. „Jeder kennt die Sehnsucht nach Heimat, nach dem verlorenen Paradies.“ Heimat hier sei aber immer vorläufig. „Unsere Sehnsucht macht uns menschlich“, erklärte Kirschstein. „Wir brauchen Überschaubarkeit und Geborgenheit“, dafür auch Gegenstände und Räume, „worin sich unsere Identität spiegelt.“ Hier verortete Kirschstein entsprechend den Heimatverein Norderland: „vielleicht in der schönsten aller irdischen Heimaten.“

Auf diese hatte sich auch Bürgermeister Heiko Schmelzle in seinem Grußwort vor vielen geladenen Gästen aus ganz Ostfriesland und darüber hinaus bezogen und von den „Werten der Region“ gesprochen. Sie machten das Leben hier lebenswert, zumal der Heimatverein die Geschicke des Museums immer wieder an die neuen Begebenheiten anpasse.

Davon konnten sich alle Interessierten später im Sonderausstellungsraum des Museums selbst überzeugen. Dort gab es zum Beispiel in exklusiver Sonderauflage von fünf Stück das „Norder Stadthaus“ als Bausatz, das Tieda Bogena in Anlehnung an das alte Rathaus gefertigt hat. Man konnte Nordens Innenstadt anno 1882 als Puzzle legen, gemeinsam mit den ehrenamtlich tätigen Spezialisten in der eigenen (Namens-)Geschichte forschen, in der Bibliothek alte und seltene Schätze anschauen, gedruckte Teetaler aus Teeblättern erwerben oder sich den Marktplatz früherer Zeiten vorführen lassen. Historische Fotos zeigten, welche Gebäude früher in und um Nordens Zentrum gestanden haben. Und schließlich ließen sich viele Besucher bei einem netten Plausch in der Theelkammer Tee und Krintstuut schmecken.

Mit Dank an den Ostfrieisischen Kurier (Text & Foto)