Milchlieferboykott: "Seelischer Druck war immens!"

Norden-Andreas, 18. Juni 2008

Information und Diskussion mit betroffenen Landwirten

"Was sind uns unsere Lebensmittel wert?" Unter dieser Leitfrage stand eine Informations- und Diskussionsveranstaltung im Norder Andreas-Gemeindezentrum. Konkret ging es um "Milchpreis, Milchlieferboykott und die Konsequenzen" Auf dem Podium saßen die Landwirte Wilfried Hasseler als Mitglied der Andreasgemeinde (Westermarsch) und Ludwig Soeken als Landesteamleiter des BDM (Timmel), dazu Gerd Borgers für die gastgebende Gemeinde (Vors. Diakonieausschuss des Kirchenkreises) und Pastor Rolf Meyer-Engeler (Hage). Die Diskussionsleitung hatte Superintendent Dr. Helmut Kirschstein. Gut 50 Personen nahmen teil - insbesondere aus der Westermarsch, aus Hage und aus Nesse waren zahlreiche Landwirte und ihre Familienangehörigen erschienen.

Zur Begrüßung unterstrich Gerd Borgers, dass die Kirche mit diesem Veranstaltungangebot ihre öffentliche Verantwortung wahrnehmen wolle: "Wir sind kein reiner `Betclub´, sondern sehen uns an der Seite der betroffenen Menschen." Diese Solidarität unterstrich Pastor Meyer-Engeler, der selber aus einer Landwirtsfamilie stammt und engen Kontakt zu seinem Bruder hält, der den elterlichen Hof übernommen hat. Er unterstrich, wie "verletzend" es für die Milchbauern sei, wenn dieses wichtige Lebensmittel zum Dumpingpreis verkauft werde. Darin drücke sich auch eine Missachtung gegenüber der landwirtschaftlichen Arbeit aus. Meyer-Engeler wies aber auch auf die globale Verantwortung hin: Die Erhöhung der Milchquote um 2 % und der damit verbundene Export europäischen Milchpulvers habe allein in Kenia 600.000 Kleinbauern aus der Produktion gedrängt.

Seine persönliche Situation schilderte Landwirt Wilfried Hasseler anhand konkreter Zahlen: 70 bis 80 Wochenstunden Arbeit stehe ein Gehalt von weniger als 7,50 € gegenüber - ein Stundenlohn, der unter der diskutierten Armutsgrenze liege. Eigener Urlaub sei sehr schwer zu organisieren und bedeute hohe Vertretungskosten, da der Betrieb wie an Sonn- und Feiertagen ja durchgängig aufrecht erhalten werden müsse. Der "Streik" - wie er sich ausdrückte - sei tatsächlich das letzte Mittel gewesen, und keinem Landwirt sei es leichtgefallen, Milch "wegzukippen": "Der seelische Druck war immens!" Aber auch die finanzielle Belastung musste kalkuliert werden: Immerhin habe der Boykott für die Höfe zu unmittelbaren Verlusten von 5.000 bis 10.000 € geführt. Umso wichtiger sei die "starke Solidarität" unter den Berufskollegen gewesen. Der Kampf lohne sich auch unter dem Aspekt, "dass wir alle keine industrielle Landwirtschaft wollen, sondern in familiären Betrieben arbeiten möchten - zu fairen Preisen, die sich die Verbraucher leisten können!"

Ludwik Soeken lobte das Engagement des BDM (Bund deutscher Michviehhalter), dem es gelungen sei, endlich eine schlagkräftige Vertretung bäuerlicher Interessen zu organisieren. "Es geht um weit mehr als um die 43 Cent!" Ziel sei es, mit der fairen Preisgestaltung für die Erzeuger auch die regionale Wertschöpfung zu fördern, zum Erhalt der Kulturlandschaft beizutragen und den "Erhalt der Ernährungssouveränität" zu fördern. Durch die Grünlandnutzung und kurze Vermarktungs-Wege werde auch das ökologische Gleichgewicht am ehesten erhalten. Anders als von landwirtschaftlichen Beratern empfohlen, wolle man keinesfalls auf Betriebe mit 500 Kühen hinaus, sondern befürworte prinzipiell den gegenwärtigen Durchschnit von 85 Kühen pro Betrieb. Soeken sprach sich auch vehement gegen die Subventionierung des Exports aus: "Subventionierung erzeugt Hunger!"

Der "Streik" sei wirklich das letzte Mittel gewesen, um eine völlig falsche Entwicklung zu stoppen. Verantwortlich für den Preisdruck sei vor allem der Lebensmitteleinzelhandel, der im Frühjahr "erbarmungslos" vorgegangen sei. Soeken plädierte für einen "Systemwechsel", der den Landwirten einen festen Preis für einen bestimmten Zeitrahmen garantiere. Die Milchquote solle unbedingt beibehalten werden, Strafzahlungen schon ab dem 1 kg "Übermilch" seien konsequent durchzusetzen, um die nicht gewollte Überproduktion zu unterbinden. Auch weitere Maßnahmen (z.B. die Änderung des "Umrechnungsfaktors") könnten in Deutschland sofort innerhalb des geltenden EU-Rechts umgesetzt werden.

Soeken schaute optimistisch in die nahe Zukunft. Entscheidend sei, dass endlich "Augenhöhe" mit der Milchwirtschaft und den Agrar-Politikern erreicht sei. "Wir müssen die Politik beeinflussen - das geht nicht durch Geld, aber durch Geschlossenheit."

In der anschließenden Diskussion wurde wiederholt die grundsätzliche Frage nach dem Wert der Lebensmittel laut. In seinem Schlusswort betonte Superintendent Dr. Kirschstein die Hoffnung, durch öffentliche Diskussionen über den Milchpreis werde das Bewusstsein für den Wert unserer Lebensgrundlagen insgesamt erweitert: "Es geht doch nicht an, dass den Kunden alle zwei Jahre ein neues Handy-Modell hinterhergeworfen wird, aber die Lebensmittel immer weniger kosten sollen!" Faire Preise für bäuerliche Erzeugnisse seien auch Ausdruck für die Wertschätzung gegenüber dem Lebensnotwendigen.