"Wert(e)voll wählen gehen": Renten-Verantwortung!

Baltrum, 30. August 2017

Prof. Dr. Hübner inspiriert Tageskonvent des Kirchenkreises Norden auf Baltrum

Die Rentensicherung im Alter hat für die Kirche höchstes ethisches Gewicht“. Das sagte Prof. Dr. Jörg Hübner in seinem Vortrag vor dem Konvent des Ev.-luth. Kirchenkreises auf Baltrum. Die Pastorinnen und Pastoren, Diakoninnen und Diakone hatten sich zu ihrer zwei-jährlichen Tages-Veranstaltung versammelt, um angesichts der Bundestagswahl an einem konkreten Punkt in die Parteiprogramme einzusteigen – eben zur Renten- und Sozialpolitik. Dafür hatte Superintendent Dr. Helmut Kirschstein den Leiter der Evangelischen Akademie Bad Boll, Prof. Dr. Jörg Hübner gewonnen. Er weilt zur Zeit als Kurpastor auf der Insel.

Zur Begrüßung des Konvents hatte bereits Inselpastorin Anna Henken in einer gehaltvollen Andacht auf die soziale Verantwortung der Kirche für Staat und Gesellschaft hingewiesen. Nach Ephoralia und internen Gesprächen war auch die Öffentlichkeit eingeladen, um - im Sinne einer Veranstaltung der "Kirche im Tourismus" - den Ausführungen des Akademieleiters und Professors für Systematische Theologie und Sozialethik an der Ruhr-Universität Bochum zu folgen. Dr. Hübner, der als ehemaliger Gemeindepastor und späteres Mitglied der EKD-Kammer für nachhaltige Entwicklung an Positionen der Evangelischen Kirche zu Themen wie Nachhaltigkeit und Globalisierung mitgearbeitet hatte, erwies sich als kompetenter Sachkenner und einfühlsamer Gesprächspartner in den anschließenden Diskussionen.

Vollständig lautete sein Thema: "Wert(e)voll wählen gehen! Parteiprogramme im Gespräch. Unser tägliches Brot gib uns heute! - Zur Sozialpolitik.“ Durch den engagierten Vortrag gestaltete sich die Thematik spannend und alles andere als „trocken“. Prof. Hübner gelang es, durch einen intensiven Rückblick auf die Entstehungsgeschichte des deutschen Rentensystems die phänomenalen Verschiebungen aufzuzeigen, die in den letzten Jahren bis in die Gegenwart hinein passiert sind.

Warum das alles Kirche und Christen besonders angeht? Das Gebot der „Altenehrung“ sei schon in den Zehn Geboten von zentraler Bedeutung – „auf dass dir´s wohlergehe und du lange lebest auf Erden“, so hatte Martin Luther Verantwortung und Konsequenzen für die jüngere Generation eingeschärft. Christen und Kirchen standen denn auch ganz eindeutig hinter den sozialpolitischen Weichenstellungen der Wirtschafts-Wunder-Jahre. Was 1957 einen entscheidenden Wendepunkt der deutschen Sozialpolitik bedeutete – die Rentner sollten fortan nicht nur abgespeist werden, sondern ihrerseits von der wirtschaftlichen Entwicklung profitieren – wird gegenwärtig durch die demographische Entwicklung und die „Finanzmarkt-Falle“ einem fatalen Paradigmen-Wechsel unterzogen. Das in den 50er Jahren entwickelte Leitbild zum „Generationenvertrag“ mit dem Prinzip der „Vorleistungs-Gerechtigkeit“ und dem Pochen auf „Beteiligungs-Gerechtigkeit“, ja „Befähigungs-Gerechtigkeit“ wird zunehmend torpediert. Dazu trägt schon seit Ende der 70er Jahre das Fehlen junger Menschen bei, hinzu kommt der gleichzeitige Anstieg der Lebenserwartung (von etwa 69 Jahren 1960 auf knapp 80 im Jahr 2010) und die wachsende Zahl von Menschen in prekären Verhältnissen. Umso kritischer müsse man sehen, dass die massiv zunehmenden Einkünfte aus Kapitaleinnahmen nichts zur Rentenverantwortung beitragen.

Erstaunlich ist vor diesem Hintergrund, dass die dramatische Entwicklung am Interesse der allermeisten Menschen bisher völlig vorbeigeht. Während jetzt noch ca. 53 % des letzten Einkommens als Rente ausgezahlt werden können, werden es für viele Rentner im Jahr 2030 nur noch 42,8 % sein. Der Plan von 1957 hatte demgegenüber noch 65 - 70 % vorgesehen. Somit sei eine erschreckende Altersarmut vorgezeichnet, die Rente sei flächendeckend nicht mehr „Lebensstandard-sichernd“. Gegenmaßnahmen wie das „3-Säulen-Modell“ (Rente, Betriebsrente, freiwillige Zusatzversicherung wie „Riester“, „Rürup“) kommen dagegen offensichtlich nicht an. Und gerade das Dringen auf eigene Anstrengungen bedeute eine „Teilprivatisierung“ der Rentenversicherung, die „nur noch eine erweiterte Grundsicherung“ bedeute. Fazit: Die lange Zeit für einen großen gesellschaftlichen Konsens entscheidenden Grundprinzipien wurden und werden schleichend ausgehöhlt. Die Rente im ehemals angestrebten Sinn – so der Referent – „ist nicht mehr sicher“, verkommt vielmehr zu einem „Torso der Rentenversicherung“.

Umso spannender der Blick in die Parteiprogramme: Keine der 6 zukünftig im Bundestag zu erwartenden Parteien spricht überhaupt noch vom „Generationenvertrag“! Prof. Dr. Hübner stellte kritisch fest, dass von der Verniedlichung des Problems („weiter so“, als müsse nichts geschehen) bis zur völligen Abschaffung der Rente überhaupt (der Begriff wird nicht einmal mehr verwendet) keine der Parteien das heiße Eisen anpacke und der dramatischen Perspektive auch nur annähernd gerecht würde.

Dass ein anderes, tragfähiges Modell möglich sei, zeige die Entwicklung in Österreich, wo das Rentenniveau gegenwärtig bei 72 % (!) liege. Zu beantworten wären auch in Deutschland die Frage nach einer möglichen Beteiligung von Selbständigen und Beamten, nach einer für alle Betriebe verpflichtenden Zahlung einer Betriebsrente, nach dem Verhältnis der Renten-Grundabsicherung zur Grundsicherung überhaupt und nach der sich so womöglich aufdrängenden Einführung eines allgemeinen Grundeinkommens. Allen Anwesenden war am Ende klar: Es bedarf dringend einer gründlichen gesellschaftlichen Diskussion – gerade auch angesichts der irritierenden bis desaströsen Signale der aktuellen Parteiprogramme. Wer kann, wer sollte das Podium für diese dringend notwendigen, an der Sache wie am Menschen orientierten Diskussion bieten? Prof. Dr. Hübner plädierte für das Engagement der Kirchen: In Akademien wie auf Kirchenkreis- und Gemeindeebene sollte partnerschaftlich dafür gesorgt werden, dass Verbände, Parteien und Institutionen miteinander ins Gespräch kommen, die Situation ernstnehmen und gemeinsam Lösungsperspektiven entwickeln.

Ansatzweise war dazu im Rahmen des Konvents noch am Nachmittag Gelegenheit: In Workshops diskutierten die Norder Theologinnen und Theologen Möglichkeiten der Kirche – und ihre persönlichen Perspektiven, um als Christen zur angemahnten Sozial- und Rentengerechtigkeit beizutragen.