Sternstunde zur "anpassungsfähigen Integration"

Norden, 23. September 2017

"Boatpeople": Beeindruckende Ausstellungseröffnung in der Ludgerikirche

Jeder, der dabei ist, spürt, dass er teil hat an einem ganz besonderen Ereignis. Wer am Sonnabendvormittag in der Norder Ludgerikirche war, hat genau das gespürt: an diesem Ort Teilnehmer einer Sternstunde gewesen zu sein. Woran das lag? An den zahlreichen Reden zur Eröffnung der Sonderausstellung des Ostfriesischen Teemuseums? An dem Gesang von Sophia Ackermann und Thomas Erdbrügger? An der Atmosphäre? Einfach an den vielen Menschen in der Kirche? Sicher, es ist das Ganze,was es ausgemacht hat, vor allem aber die Gewissheit, dass alle, die diese Ausstellung über die vietnamesischen Boatpeople, ihre Flucht, ihr Ankommen, ihren weiteren Lebensweg, ausgearbeitet und vorbereitet haben, dieses Vorhaben mit ganz viel Engagement,ungeheurer Intensität und vor allem mit Herzblut angegangen sind.

Entsprechend waren die Eröffnungsreden getragen von eigener (An-)Teilnahme. Und waren nicht die Lieder, die Sophia Ackermann und Thomas Erdbrügger, begleitet von Frauke Stenger an der Gitarre, vortrugen, so etwas wie eine Essenz dieser Reden? Lieder von Joan Baez, die selbst während des Vietnamkrieges 1972 Bombardements der USA miterlebt hatte – die Musik allein war schon ein Gänsehautfaktor.

Alle erzählten die gleiche Geschichte an diesem Vormittag: Vietnamkriegsende, Flucht von 1,6 Millionen Menschen, darunter auch 250000-facher Tod. Ankommen der ersten 163 von 3155 Vietnamesen in Norddeich am 3. Dezember 1978 in Hochsommerkleidung – übrigens im Winter der Schneekatastrophe. Das Überleben, das Einleben hier in fremder Kultur, der eigenen vertrauten Sprache, der Identität, der Heimat beraubt.

Trotzdem: Es war nie die gleiche Geschichte, die erzählt wurde. Als „Hausherr“ in der Ludgerikirche legte Dr. Helmut Kirschstein den Grundstein: Flucht, Vertreibung, Integration, fragte er, ein Thema für diesen sakralen Raum? Natürlich eine rhetorische Frage. Die Bibel sei voll von Flüchtlingsgeschichten, klärte der Superintendent auf. Jesus sei im Exil groß geworden, Sohn einer Asylantenfamilie. Und Kirschstein schloss seine Begrüßung mit dem Wunsch, den Menschen, die hierherkommen, das zu gönnen, „wonach wir alle uns sehnen: Heimat“.

Thom Van Hoang gehört zu den Vietnamesen, die ihre Heimat verlassen mussten. Der Vater: verhaftet, gefoltert, ein Bruder: an Malaria gestorben, weil er nicht rechtzeitig ins Krankenhaus durfte. Van Hoang und seine Familie haben viel durchgemacht, aber hier eine neue Heimat gefunden. Er ist Deutscher, seit 18 Jahren schon, er ist hier zur Schule gegangen, hat Aus- und Fortbildungen durchlaufen. Van Hoang erzählte stellvertretend für Tausende seine Lebensgeschichte. Kein Laut in der vollbesetzten Kirche. Aber danach minutenlanger Applaus.

Den bekam jeder Redner an diesem Morgen. Zum Beispiel Bürgermeister Heiko Schmelzle, der die ganz persönliche Erfolgsgeschichte von Duong Cong Chinh referierte, der als Zehnjähriger aus Vietnam flüchtete und sich hier ein Leben aufgebaut hat.

Zum Beispiel Roman Siewert. Er leitete das Haus Nazareth, als im Winter 1978 der Anruf kam, ob er es sich nicht vorstellen könne,Vietnamesen für drei Monate aufzunehmen. So ernst die Geschichte war – Roman Siewert erzählte auch mit Humor. Wie er mit dem damaligen Bürgermeister Gerd Campen verhandelte, alle Verantwortlichen in Stadt und Landkreis mit ins Boot holte, um eine breite Unterstützerbasis zu haben, vor allem aber, wie die Ostfriesen im Norddeicher Haus Nazareth selbst dazulernten. Zum Beispiel, dass Reissuppe viel besser zum Frühstück passt als ein Brötchen... Aber auch, dass ein schwer traumatisierter Mensch trotzdem dauerhaft lächelt. Um sein Gesicht zu wahren.

Siewert und Dr. Matthias Stenger als Leiter des Ostfriesischen Teemuseums machten vor allem eins deutlich: Alle Menschen hier haben am Ende profitiert und gewonnen. Siewert sprach von „anpassungsfähiger Integration“. Was er meinte: dass es zum Beispiel essentiell wichtig ist, geflüchteten Menschen mit äußerstem Respekt zu begegnen. Sie ihre Religion, ihre Musik, ihre Lebensgewohnheiten leben zu lassen. „Es gibt starke und schwache Charaktere“, sagte Siewert, wenn aber die Rahmenbedingungen nicht stimmten, „werden die Starken schwach und die Schwachen noch schwächer“.

Die Rahmenbedingungen hatten damals gestimmt, Dr. Matthias Stenger hatte sie noch einmal genannt – die Vietnamesen durften bleiben, ohne Angst, wieder ausgewiesen zu werden. Sie durften ihre Familien nachholen, bekamen sofort Deutschunterricht, durften arbeiten, kurz, man gewährte ihnen alle die Rechte, die notwendig sind, damit ein Mensch sich wohlfühlen und sich in einem neuen Zuhause einleben kann. Heute, das sprachen Stenger und Siewert mehrfach deutlich an, sei das nicht mehr der Fall. Siewert hatte als Symbol ein Bild mitgebracht und auf seinen Rahmen verwiesen: Der Rahmen, der damals gestimmt habe. „Lernen wir davon!“, mahnte Siewert.

Intensiv gelernt haben bereits die Schüler der Conerus-Schule, die das ganze Projekt unter Leitung von Cornelia Kruse gestemmt hatten. Ihre Lehrerin gab sich noch einmal beeindruckt vom Engagement der Jugendlichen, ihrem großen Einsatz in ihrer Freizeit. Kruse dankte für die gute Zusammenarbeit mit dem Museum und dem Medienzentrum, das das bisher an Daten umfangreichste Projekt mit realisieren half. Am Schluss sagte Kruse das vielleicht Allerwichtigste: dass es wichtig sei, die Geschichten der Menschen zu hören.

Diese Gelegenheit nahmen nach dem feierlichen Auftakt sehr viele sofort wahr. Stärkten sich mit Frühlingsrollen und Wan Tan,die die vietnamesische Gemeinschaft der katholischen Kirchengemeinde St. Ludgerus vorbereitet hatte, stellten sich im Sonderausstellungsraum an die Hörstationen und tauchten ein – nicht allein in die Geschichte, sondern auch in die Gegenwart. Denn auch das hatten alle Redner klar formuliert: die gelungene Integration der Vietnamesen sollte als Ratgeber, als Impulsgeber, als Motivation dienen für uns heute. Auch aktuell kommen Menschen aus den verschiedensten Ländern der Welt nach Ostfriesland. Damit Integration gelingen kann, sind demnach alle gefordert, den wie auch immer gesetzten Rahmen mit Inhalt zu füllen.

Die Ausstellung im Teemuseum ist bis zum 8. April 2018 zu sehen – und an Medienstationen zu hören.

Mit Dank an den OSTFRIESISCHEN KURIER / Text & Foto