Evangelischer Grundsatz: "Jeder Christ ist Papst."

Großheide, 23. Februar 2017

"Luther wirkte revolutionär": Landesbischof Meister beim Vortrag in Großheide

"Jeder ist Papst, der getauft ist“: Mit diesem Satz brachte Landesbischof Ralf Meister Luthers berühmte Lehre vom „Priestertum aller Gläubigen“ (oder „Getauften“) auf den Punkt. Die historische wie aktuelle Bedeutung dieses zentralen lutherischen Gedankens für Kirche und Gesellschaft stand im Mittelpunkt seiner Ausführungen. Im Rahmen der Vortragsreihe des Kirchenkreises Nordern referierte das geistliche Oberhaupt der Hannoverschen Landeskirche in der Großheider Christuskirche zum Jubiläumsjahr "500 Jahre Reformation".

Was heutzutage zu einer demokratischen Selbstverständlichkeit geworden ist – die „Partizipation“ oder „Teilhabe“ der Menschen, etwa bei Wahlen, bei Bauvorhaben oder öffentlichen Planungen – habe seinen Ursprung in Martin Luthers Kirchenverständnis. Die Vorstellung, Menschen an Willensbildung und Entscheidung zu beteiligen, sei „im Kern“ vom Reformator geprägt worden. Der zentrale Gedanke vom Priestertum aller Christen – ganz gleich, ob es sich dabei um Geistliche oder um Laien handelt – sei die entscheidende „Keimzelle“ heutiger Grundsätze.

Um die unglaubliche „Provokation“ der lutherischen Idee zu verstehen, skizzierte der Landesbischof zunächst die typische Gesellschaftsordnung um das Jahr 1500: Nie zuvor waren die Menschen „frommer“, was sich allerdings äußerst bedrückend auswirkte: Die allermeisten Menschen lebten in ständiger Angst davor, am „jüngsten Tage“ oder auch nach ihrem Tod von einem gnadenlos hartherzigen Gott „in die Hölle durchgereicht zu werden“. In einer Zeit wachsender sozialer Ungleichheit und Verteuerung der Lebenshaltungskosten garantierte das Ständesystem mit seiner klaren Ordnung von Klerus, Adel und Arbeitender Bevölkerung zumindest eine gewisse Stabilität. Dabei war aber der allergrößte Teil der Menschen von jedweder Form der Mitbestimmung „vollkommen ausgeschlossen“.

Darum kann man sich die Erschütterung nicht groß genug vorstellen, als Martin Luther 1520 verkündet, dass grundsätzlich alle Christen zum „geistlichen Stand“ gehören – ganz gleich, ob sie Mönch, Priester, Bischof, oder aber Handwerker, Soldat oder Hausfrau sind. Damit behauptet der Reformator, dass jeder Christ unmittelbar vor Gott steht – für die heilvolle Gottesbegegnung braucht es keinen Priester mehr. So bringt Martin Luther die bis dahin geltende Gesellschaftsordnung zum Einsturz und „bringt die katholische Kirche grundlegend ins Wanken“.

"Revolutionäre Konsequenzen“ zeigten sich aber nicht nur für die Gestaltung der Kirche und für die persönliche Frömmigkeit der Christen. Denn nicht nur kritisch, sondern auch konstruktiv wirkte sich Luthers Lehre auf die ganze Gesellschaft aus: Plötzlich besitzt jeder Christenmensch die gleiche unverlierbare Würde, und dadurch wird auch die gleichberechtigte Teilhabe und Mitbestimmung am politischen Gemeinwesen gerechtfertigt. Mehr noch: Das „Priestertum aller Gläubigen“ verlangt geradezu danach, dass Christen aller Berufe und Schichten Verantwortung für das Gemeinwesen übernehmen.

Schon in den ersten Jahrzehnten der Reformationszeit führte das zur flächendeckenden Einrichtung einer Armenfürsorge, die jetzt in der Hand engagierter Laien lag (im Mittelalter war die Armenfürsorge in den Klöstern verankert und wurde den Mönchen und Nonnen zugeschrieben). Auch die große Bedeutung der Volksbildung – ein weiterer zentraler Gedanke der Reformation – sei eine Folge des Partizipations-Gedankens, so der Landesbischof. Wenn jeder Christ gleichen Zugang zu Gott habe und sich Gottes Wort widmen könne und solle, müsse auch dafür gesorgt sein, dass die Bevölkerung lesen und schreiben kann. „Die Bevölkerung sollte gebildet sein und soziale Verantwortung übernehmen.“ Weitere soziale Konsequenzen kamen hinzu: „Schon Martin Luther setzte sich für eine gerechte Bezahlung ein.“

Die 500-jährige Wirkungsgeschichte des „allgemeinen Priestertums“ führte u.a. zur Einrichtung einer professionellen Diakonie im 19. Jahrhundert, aber auch zur Entwicklung demokratisch orientierter Synoden: „Kirche kann durch alle geleitet werden.“ Tatsächlich entscheidet in der Hannoverschen Landeskirche seit über 150 Jahren ein demokratisches Gremium über den Weg der Kirche, wobei weitaus mehr Laien als Geistliche in der Synode das Sagen haben. „Ich habe allerhöchsten Respekt vor der höchsten Instanz unsrer Landeskirche: der Landessynode“, sagte Bischof Meister. Er selbst sei ja durch die Synode zum Bischof gewählt worden. Das synodale Prinzip gelte entsprechend in den Ortsgemeinden, wo demokratisch gewählte Kirchenvorstände als Leitungsgremium wirkten. Auch wenn es seit der Reformationszeit noch 350 Jahre brauchte, bis dieser Gedanke „ausgeformt“ war – der Sache nach war das Ganze doch schon von Martin Luther „angedacht“.

Am anschaulichsten werde das „Priestertum aller Gläubigen“ für ihn in der Idee des Deutschen Evangelischen Kirchentags, dem größten protestantischen Laientreffen der Welt. Hier zeige sich die „Power“ des lutherischen Grundgedankens. Ralf Meister: „Da planen keine Bischöfe oder Oberlandeskirchenräte, da planen SIE – die Laien!“

Den zentralen evangelischen Grundgedanken vom „Priestertum aller Gläubigen“ versteht der Landesbischof aber auch als aktuelle Herausforderung: „Vorsicht vor einer nur noch scheinbaren Partizipation!“ Die Entwicklung in Politik und Wirtschaft führe immer stärker zu Entscheidungen in „abgehobenen Zirkeln“. Hier appellierte Ralf Meister in aller Eindeutigkeit: „Als Christen müssen wir uns für die Bewahrung der grundsätzlichen demokratischen Prinzipien einsetzen!“ In diesem Sinne werde auch die neue Verfassung der Hannoverschen Landeskirche ausgearbeitet, die zum ersten Mal in der Geschichte „ein deutliches Ja zum demokratischen Rechtsstaat“ enthalte. Über das Angebot hinaus, alle 6 Jahre durch die Teilnahme an Kirchenvorstandswahlen die Geschicke der Kirche mitzubestimmen, müsse man neue Partizipations-Möglichkeiten entwickeln. Vielleicht könne man häufiger „alle Kirchenmitglieder landeskirchenweit nach ihrer Meinung zu bestimmten Themen befragen“?!

Schließlich zielte der Landesbischof noch einmal auf die geistliche Dimension des „allgemeinen Priestertums“ ab: Martin Luther habe damit ja auch die „ganz persönliche Beziehung zu Gott“ in den Mittelpunkt seiner Theologie gestellt. Bischof Meister bezweifelte, dass es dafür innerhalb seiner Kirche schon „genug Raum“ gebe. Er plädierte für mehr Möglichkeiten zur „Rückbesinnung“ und zum „Austausch über die persönliche Gottesbeziehung“ - auch in den Ausschüssen, Leitungsgremien und Synoden. Nach mancherlei „Hokuspokus“ der letzten Jahre - so der Landesbischof selbstkritisch – strebe die Landeskirche für 2019 ein „Jahr der Freiräume“ an. „Könnten dann nicht ein Drittel aller Sitzungen ausfallen – und in der frei werdenden Zeit liest man gemeinsam die Bibel?!“

Überraschend persönlich auch ein weiteres Schluss-Statement des Hannoverschen Landesbischofs zum allgemeinen Priestertum: „Es gibt viele Punkte, bei denen ich stolz bin, ein evangelischer Christ zu sein – das ist so einer!“ Es handele sich um ein „unglaublich großes Geschenk, dass wir das in unserer Kirche so leben können“.

Die aufmerksamen Zuhörer in der ordentlich gefüllten Christuskirche dankten ihrem Kirchenoberhaupt mit zustimmendem Applaus.