So geht Kirche - die Diskussion ist eröffnet

Großheide, 16. Juni 2017

Kirchenkreistag: LKA-Präsidentin stellt Verfassungsentwurf der Landeskirche vor

Gespannte Aufmerksamkeit im Saal des Großheider Gemeindehauses: Konzentriert lauschen rund 50 Delegierte des Kirchenkreistags den Ausführungen von Dr. Stephanie Springer. Die Präsidentin des Landeskirchenamts ist zum ersten Mal in den Kirchenkreis Norden gereist, um bei der Frühjahrstagung des Kirchenkreis-Parlaments zu referieren: „Auf dem Weg zu einer neuen Kirchenverfassung“, heißt ihr Thema. Spröde und abstrakt? Nein, die oberste Juristin der Landeskirche spricht so lebendig und mitreißend, dass die Aktualität der Reformen den Gemeinde-Verantwortlichen unmittelbar einleuchtet.

Schon ihre Ausgangsfrage lässt aufhorchen: Wie können wir das Evangelium am angemessensten in unserer Zeit verkündigen? Dazu brauche es „gute Ordnungen“, wie schon Martin Luther wusste, Ordnungen, die nicht mit dem „Heil“ zu verwechseln sind, die aber dem Evangelium entsprechen müssten.

Den Rahmen für solche landeskirchlichen Ordnungen setzt die Kirchenverfassung. Erstmals 1864 entwickelt, um auch die Verantwortung der Ehrenamtlichen und Nicht-Geistlichen zu fördern, gab es erst 1922, dann 1933 und schließlich 1947 wichtige Überarbeitungen und Neuentwürfe. Die heute noch in der Hannoverschen Landeskirche geltende Kirchenverfassung stammt vom 11. Februar 1965, ist also über 50 Jahre alt und spricht selbstverständlich die Sprache ihrer Zeit. Wenn man sich aber beispielsweise klarmacht, dass damals über 90 % aller Deutschen Mitglied einer der großen Kirchen waren und Frauen noch nicht zur Pastorin ordiniert wurden, merkt man schnell die große historische Distanz: Was hat sich seither nicht alles geändert in Kirche und Gesellschaft! Eine Kirchenverfassung hat aber nur dann etwas Aktuelles zu sagen, wenn sie der Wirklichkeit entspricht – darum die dringende Notwendigkeit zur Überarbeitung!

Zu den Zielen der Reform gehört demnach die Offenheit für neue Entwicklungen, etwa im Blick auf die Vielfalt innerhalb der Landeskirche: Die Unterschiede zwischen ländlichen und großstädtischen Gemeinden, zwischen Südniedersachsen, Lüneburger Heide und Ostfriesland sind immens! Überhaupt sollen die Leitvorstellungen der Verfassung endlich wieder mit den anderen, zwischenzeitlich längst aktualisierten Kirchengesetzen übereinstimmen. Die Formulierungen sollen weniger abstrakt und juristisch, dafür eher einladend und „gender-gerecht“ klingen. Anders als 1965, als im Blick auf Bibel und Bekenntnis großer Streit herrschte und man sich diesbezüglich lieber bedeckt hielt, soll jetzt ausdrücklich die gemeinsame theologische Grundlage – wenn auch sparsam, so doch deutlich – benannt werden. Und schließlich wird der gesamte Verfassungstext gestrafft: Statt bisher 132 Artikel, wird es nun nur noch 85 geben.

Mehr Theologie wagen könnte also ein Motto lauten. So geht man in der Präambel auf die „Bekennende Kirche“ zurück und knüpft ausdrücklich an ihren Kampf gegen die Nazi-Ideologie der 30er Jahre an. Bezog man sich noch 1965 lediglich auf die Bibel und die lutherischen Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts, beruft sich die Landeskirche jetzt auf das Evangelium, „wie es aufs Neue in der Theologischen Erklärung von Barmen bekannt worden ist“. Damit werden die Lehren nicht nur aus den Auseinandersetzungen der Reformationszeit, sondern auch aus den Kämpfen des 20. Jahrhunderts gezogen. Für theologische Insider eine Revolution – aber längst überfällig!

Erstmals enthält die Kirchenverfassung auch Hinweise auf das typisch evangelische „Priestertum aller Getauften“. Ehrenamtliche und berufliche Dienste werden nicht nur „aufeinander bezogen“, sondern ihnen wird prinzipiell „gleicher Rang“ zugesprochen: Beide dienen „auf je eigene Weise dem Aufbau der Gemeinde Jesu Christi“. So geht Kirche – evangelisch betrachtet schon immer. In der hannoverschen Kirchenverfassung nun endlich auch ganz offiziell!

Mit der gemeinsamen Verantwortung für den Gemeindeaufbau rückt auch die christliche Verantwortung für die Gesellschaft in den Blick. Sie wird – nach „Barmen“ 1934, den Loccumer Staatsverträgen 1955 und der EKD-Demokratie-Denkschrift 1985 – ebenfalls zum ersten Mal in einer Kirchenverfassung festgehalten. Damit befürwortet die evangelisch-lutherische Kirche erstmals ausdrücklich den „freiheitlichen, demokratischen und sozialen Rechtsstaat“ und tritt offensiv für die Menschenwürde ein – es wurde Zeit! Die „Mitverantwortung für die Gestaltung des demokratischen Gemeinwesens“ gehört nun also ausdrücklich zu den Aufgaben der Kirche und jedes einzelnen Christenmenschen.

Aufgewertet wird durch die Verfassungsreform auch die kirchliche Jugend: Ab sofort sollen jedem Kirchenkreistag mindestens zwei junge Mitchristen unter 27 Jahren angehören. Dementsprechend erfahren vielfältige Formen des kirchlichen Lebens ausdrückliche Wertschätzung. Begrüßt werden auch „unterschiedliche Zugänge“ zum christlichen Glauben. Neu gewürdigt wird die kirchliche Arbeit jenseits parochialer Gemeinden, insbesondere auch auf Ebene des Kirchenkreises. Was über die Möglichkeiten der einzelnen Gemeinde hinausgeht, soll mit gleicher Wertigkeit auf Kirchenkreisebene geschehen – etwa im musikalischen Bereich, in der Jugendarbeit oder im Engagement für Flüchtlinge. Nicht neu, nun aber hochoffiziell anerkannt!

Alles in allem stellt sich die Hannoversche Landeskirche mit ihrer neuen Verfassung als „einladende Kirche“ auf: „Alle Menschen sind eingeladen, das Evangelium zu hören, am kirchlichen Leben teilzunehmen und christliche Gemeinschaft zu erfahren.“ Was nichts anderes bedeutet, als dass die Kirche auf allen Ebenen und mit allen Lebensäußerungen missionarisch wirken möchte: menschenfreundlich, gegenwartsnah, attraktiv.

Ganz in diesem Sinne lud die Präsidentin des Landeskirchenamts am Ende ihres Referats zur Diskussion ein – nicht nur im Saal, sondern auch per Internet: Über www.kirchenverfassung2020.de können alle Interessierten Anmerkungen und Anregungen zu den vorgelegten Texten eingeben. Am Ende eines mehrere Jahre dauernden Diskussions- und Auswertungsprozesses soll die neue Verfassung dann am 1.1.2020 in Kraft treten. Die Mitglieder des Norder Kirchenkreistags quittierten den vorgestellten Entwurf jedenfalls schon einmal mit lang anhaltendem Beifall.

Nach der Pause hatten es Christina Bitiq und Irmgard Fischer vom Förderverein „Stationäres Hospiz Norden“ nicht ganz leicht, ihre Initiative in einem weiteren Powerpoint-Referat vorzustellen. Tatsächlich gelang es beiden, die angestrebte Einrichtung ganz im Sinne der Ausführungen von Dr. Stephanie Springer als „wichtigen Beitrag zum Erhalt der Menschenwürde“ zu präsentieren. Der Kirchenkreistag zeigte sich höchst beeindruckt und signalisierte seine Bereitschaft, die Einrichtung eines stationären Hospizes in Norden nach Kräften zu unterstützen.