"Die Zukunft der Kirche liegt in ihren Gemeinden!"

Arle, 12. Juni 2015

SI-Chef Prof. Wegner beim KKT in Arle - Intensives Ringen um Beschlüsse

"Die Zukunft der Evangelischen Kirche liegt in ihren Gemeinden!" Um zukunftsträchtig zu arbeiten, müsse die Landeskirche den Gemeinden aber mehr Freiheit zur selbstbewussten Arbeit ermöglichen: "In der Kirche haben wir zu viel Planwirtschaft und zu wenig Marktwirtschaft" - so lautete das knackige Fazit von Prof. Dr. Gerhard Wegner, das der Leiter des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD am Ende seines Vortrags zog. Knapp zwei Stunden lang interpretierte der Gast aus Hannover vor dem Kirchenkreistag (KKT) in Arle die Ergebnisse der jüngsten "Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung" (KMU) der EKD. Seine Powerpoint-Präsentation wurde immer wieder von kritischen Nachfragen und eigenen Impulsen der KKT-Mitglieder unterbrochen.

In drei Perspektiven wertete Prof. Wegner die Untersuchung aus. Wie stellt sich die Bindekraft der Evangelischen Kirche dar? 13 % der Evangelischen können als "intensive Kirchenmitglieder" gelten, 44 % fühlen sich ihrer Kirchengemeinde "sehr" oder "ziemlich" verbunden - das sind immerhin rund 10 Mio. Menschen in Deutschland. Schon hier stellte Wegner fest: "Die Kirchengemeinde ist die wichtigste Bezugsgröße für unsre Kirchenmitglieder." Die Bindung an die Kirche habe immer etwas mit persönlichen Beziehungen zu tun (anders als z.B. beim ADAC, dessen Dienstleistung auch ohne Kenntnis von ADAC-Vertretern ausreiche). Erstaunlich: Da sich auch der "Evangelischen Kirche" (ähnlich wie der "eigenen Kirchengemeinde") 43 % verbunden fühlen, wirkt sich offenbar das übergemeindliche Angebot durch Akademien, Einrichtungen und Events prozentual nicht auf die Bindekraft der Kirche aus. Wichtigste Faktoren für die Bindung sind also Menschen - insbesondere der eigene Pastor oder die eigene Pastorin vor Ort (bei 75 % bekannt).

Tatsächlich spiegele sich in den Zahlen die "stabilste Situation, seit wir diese Umfragen machen" (seit 1972): 73 % der Kirchenmitglieder wollen erklärter Maßen nicht austreten - so viele wie nie zuvor. Interessant auch, dass bei den Evangelischen das soziale Interesse an kirchlicher Arbeit vor dem religiösen Interesse rangiert: "Die Diakonie schafft das Vertrauenskapital für die Kirche." Wer allerdings in der Gesamtbevölkerung ein religiöses Interesse hat, lebt dieses in den allermeisten Fällen in der Kirche aus. Das ist höchst erstaunlich: Das religiöse Interesse außerhalb der Kirche - etwa "Reiki", Esoterik, Buddhismus - geht über 0,5 % der Bevölkerung nicht hinaus. Der gegenteilige Eindruck entstehe lediglich, weil diese kleinen Gruppen sehr lautstark auftreten, so der Referent.

Das Durchschnittsalter der Kirchenmitglieder leigt bei 46,6 Jahren - das der gesamten Bevölkerung bei 42,1. Erschreckend wirkt dieses Ergebnis aber nur, solange man nicht weiß, dass das Durchschnittsalter bei CDU und SPD etwa bei 60 Jahren liegt, bei der Linkspartei sogar bei 64 Jahren. Inhaltlich geprägte Organisationen binden offenbar besonders Menschen mit Lebenserfahrung.

Wichtig seien für die Kirche "Brücken in die Gesellschaft", wie sie bspw. Kasualien (Taufen, Trauungen, Beerdigungen) darstellen: 35 % der Konfessionslosen nehmen in West-Deutschland daran teil (im Osten immerhin noch 25 %). "Diese Gottesdienste sind unsre kirchliche Leistung für die ganze Gesellschaft", so Prof. Wegner. Auch sonst kann sich das gesellschaftliche Engagement der Kirchen sehen lassen: Ev. Diakonie und kath. Caritas erbringen in Deutschland etwa zwei Drittel aller Sozialleistungen - "das gibt es in keinem anderen Land der Welt". Die Diakonie genießt bei den Evangelischen sehr großes Vertrauen (86 %), und selbst unter den Konfessionslosen wünschen sich 56 % das Betreiben diakonischer Einrichtungen. Große Wertschätzung erfahren ebenso evangelische Kindertagesstätten und evangelische Schulen. Zwischenfazit von Prof. Wegner: "Die Mitglieder der Kirche stellen einen erheblichen Fundus für die Integration der Gesellschaft dar."

Umso erschreckender die spärliche religiöse Bindung in der jüngeren Generation: Von den 14- bis 21-jährigen Evangelischen sagten lediglich 12 %, sie seien religiös. Nur 16 % sprechen mit anderen über Religion. Aber 74 % sagen, sie beten nie. Gerade jetzt sei darum der Religionsunterricht äußerst wichtig - und eben die Kontaktfläche zum eigenen Gemeindepastor, zur eigenen Gemeindepastorin. Bindungsfaktoren in schwieriger Zeit ("Erfolgsfaktoren für die Kirche") seien also (1) die lokale kirchlich-religiöse Praxis (will sagen: die eigene Kirchengemeinde, in der Menschen "Zugehörigkeit erfahren"); (2) die Beziehung zu Pastor oder Pastorin, aber auch zu anderen Personen, die für Kirche einstehen; (3) der kirchliche Bezug zu Familien (wobei jede Lebensgemeinschaft mit Kind dazu zählt); (4) das soziale Engagement mit dem Eintreten für Schwächere.

Am Ende plädierte Prof. Wegner für einen klaren Mentalitätswechsel der Kirchenmitglieder: Die bisherige Mentalität, Verantwortung an die Institution zu delegieren, habe ausgedient. "Die Verantwortung für eine positive kirchliche Entwicklung liegt bei den Kirchenmitgliedern - nicht bei `der Kirche´!" Ob das alles nicht viel zu formal gedacht sei - geht es denn in der Kirche gar nicht mehr um die Inhalte? so eine kritische Rückfrage aus dem Plenum. Prof. Wegner, der selber ordinierter Pastor ist: "Da stimme ich zu. Die aktuelle Situation ist eine Herausforderung, das Evangelium besser zu verkündigen."

Nach einer Pause widmete sich der KKT dann der konkreten Situation im Kirchenkreis Norden. Auf der Tagesordnung stand ein Beschluss zur Einsparung von 80.000 Euro im Bereich "Kirche im Tourismus", von der ab 2017 die fünf Gemeinden Juist, Norderney, Baltrum, Norddeich und Norden-Ludgeri betroffen sind. Diese Gemeinden hatten sich gemeinsam auf eine verträgliche Verteilung der Einsparsumme geeinigt. Nach intensivem Ringen mit dem Versuch, das gesamte "Paket" vielleicht doch noch einmal aufzuschnüren, fiel das Abstimmungsergebnis dann eindeutig aus: 42 Delegierte stimmten für den Vorschlag des Stellenplanungsausschusses und des Kirchenkreisvorstands (KKV), lediglich 5 waren dagegen, 5 weitere enthielten sich.

Noch deutlicher fiel das Abstimmungsergebnis aus, als es nach ebenfalls intensiver Diskussion um die Bereitstellung von jährlich 5.000 Euro für die Partnerschaftsarbeit im Kirchenkreis Norden ging: Bei 3 Gegenstimmen und 2 Enthaltungen nahmen 47 Delegierte den einstimmigen Vorschlag des Eine-Welt-Ausschusses an. Damit wird die Partnerschaftsarbeit mit Tansania, Togo, Polen, Sudan, Südsudan und Uganda - insbesondere die Reisekosten, die ansonsten privat zu tragen wären - zum ersten Mal überhaupt durch Mittel des Kirchenkreises in überschaubarem Maß unterstützt