Unter die Haut: 70 Jahre Kriegsende, 25 Jahre Einheit

Norden, 03. Oktober 2015

Deutsch-polnisches Jugendprojekt: "Gesichter der Erinnerung" gehen zu Herzen

Ganz still ist es im Saal, jeder lässt die besondere Atmosphäre auf sich wirken, lauscht, nimmt die Melancholie des Abends in sich auf und trägt die Bilder von der Leinwand in sich: Leidende Menschen im Krieg, Verzweifelte, Gequälte, Ermordete, Verwundete, Gefangene, Vertriebene, Geschundene. Verbrannte Erde.

Dabei verstehen viele die Worte nicht an diesem Abend, außer, jemand übersetzt geschwind das Deutsche ins Polnische, ins Französische. Neben jungen Menschen aus Polen und Gastschülerinnen und -schülern aus Frankreich sahen (leider) viel zu wenige deutsche Gäste „Die vielen Gesichter der Erinnerung“ am Freitagabend in der Aula der Oberschule. Es war ein gemeinsames Projekt des Vereins Gnadenkirche Tidofeld (Dokumentationsstätte zur Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in Niedersachsen und Nordwestdeutschland), des Ulrichsgymnasiums Norden und der Musikschule Miastko (dem ehemaligen Rummelsburg) aus Polen. Ein deutsch-polnischer Abend mit Liedern und Texten zum 70. Jahrestag des Kriegsendes.

Bewusst am Vorabend des Tages zur Deutschen Einheit! Wie hatte es doch Dr. Helmut Kirschstein als Vorsitzender des Vereins Gnadenkirche Tidofeld einleitend gesagt: „Die Einheit zu feiern, heißt auch, die vorangegangene Zerstörung dieser Einheit zu bedenken und zu betrauern.“ Die Zerteilung Europas habe Flucht und Vertreibung von Millionen, Vergewaltigung, Verelendung und Traumatisierung bedeutet, manchmal über Generationen hinweg bis in die Gegenwart. Heute, 25 Jahre nach der Einheit, sei dieser Abend so etwas wie „ein kleiner Triumph der Versöhnung, des Friedens und der Menschlichkeit“. Deutsche und Polen begegneten sich hier als Nachbarn, und dank der Initiative von Zbigniew Kullas sogar als Freunde. Kullas hatte schon 2009 im Auftrag des Vereins den Kontakt zu der Musikschule in Miastko hergestellt, manche jungen Polen waren nicht zum ersten Mal in Norden.

Ein solcher Abend hinterlässt Spuren. Auf der Leinwand die Bilder: zerstörte Städte, Ruinen auf fast jeder Aufnahme. Von den zerstörten Seelen der Menschen auf diesen Bildern berichteten Georg Hübl und Jutta Dauth. Sie saßen ganz an der Seite der Bühne, lasen Geschichten, kurze Texte. Briefe von Soldaten, die Weihnachten an der Front verbrachten in der Hoffnung auf ein friedliches neues Jahr, Geschichten von Kindern, die in Ruinen Verstecken spielten, bis irgendwo etwas detonierte. Und dann Hans fehlte... Texte von Bertolt Brecht oder Paul Wolff, von Marie Luise Kaschnitz oder Peter Huchel. Texte, die auch 70 Jahre nach Kriegsende betroffen machten, jeden im Saal.

Aber das war eben nur der eine Teil. Den anderen bestritten die Musiker aus Deutschland und Polen. Saxofon-, Akkordeon-, Trompeten-, Klavier- und Klarinettenklänge, die durch und durch gingen, dazu Gesang, der sich ins Ohr brannte. Gerade weil er nicht „einfach melodisch“ war, nicht „schön“, aber unglaublich eindrucksvoll und tiefgehend. Junge Sängerinnen und Sänger, die imponierend Musik von Hans Eisler vortrugen, Sänger und Sängerin aus Polen mit bewegenden Musikstücken. Ja, das ging unter die Haut. Wenn plötzlich aus dem Hintergrund der Gitarrist mit tiefer Stimme den ganzen Saal füllt, wenn Melancholie sich ausbreitet wie feuchter Nebel, der aufsteigt. Das ist imposant! Als gegen Ende des Abends Pete Seegers Anti-Kriegshymne „Sag mir, wo die Blumen sind“ mehrsprachig erklingt, bleibt kaum ein Auge trocken.

Die Mitwirkenden: Hauke Ahrends, Marco Boomgaarden, Esther Luise Bomhard, Fee-Marie von der Brelie, Marlena Brzeska, Jutta Dauth, Georg Hübl, Charlotte Grafweg, Hjordis Klinge, Antonia König, Justus Lüken, Hubert Schweda, Aleksander Witrambowski.