Vom Flüchtlingslager zur Dokumentationsstätte

Norden-Tidofeld, 27. September 2011

Gnadenkirche Tidofeld eingeweiht: Hochkarätiges Symposion, große Beteiligung

Mit einem hochkarätig besetzten „Symposion“ feierte der Verein „Gnadenkirche Tidofeld e.V.“ den Abschluss der Sanierungsarbeiten am denkmalgeschützten Gebäudekomplex von 1961. Mehrere Professoren und ausgewiesene Experten referierten vor voll besetztem Haus zum Thema „Flucht, Vertreibung und Integration“. An die 100 Teilnehmende waren der Einladung gefolgt, darunter VertreterInnen der Stadt und des Landkreises, der evangelischen wie der katholischen Kirche, gesellschaftlicher und politischer Institutionen, nicht zuletzt zahlreiche Mitglieder von Vertriebenen-Organisationen.

Namentlich begrüßte Superintendent Dr. Kirschstein als 1.Vorsitzender des Vereins die Zeitzeugin Hildegard Siwek (93), die es sich nicht nehmen ließ, an diesem besonderen Tag dabeiszusein. Kirschstein erläuterte den langen Weg bis zur erfolgreichen Sanierung, stellte „Meilensteine“ der Entwicklung vor und bekräftigte die Hoffnung, dass womöglich noch 2012, mindestens aber Ende 2013 die „Dokumentationsstätte zur Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in Niedersachsen und Nordwestdeutschland“ eingeweiht werden könne. Dann werde man sicherlich auch die Schirmherren des Projekts – Landesbischof Ralf Meister und Ministerpräsident David McAllister – in Tidofeld begrüßen können.

Sodann führte Prof. Dr. Bernhard Parisius, Wissenschaftlicher Leiter des Projekts (Staatsarchiv Aurich) durch das Programm und stellte die Referenten vor. Prof. Dr. Dietmar von Reeken (Universität Oldenburg) betonte zunächst die besonderen Chancen der Beschäftigung mit dem Thema „Flucht, Vertreibung, Integration“ unter schuldidaktischen Gesichtspunkten. Schulklassen und Jugendliche stellen eine der wichtigsten Zielgruppen des Projekts dar.

Parisius selbst zeichnete den Weg vom Flüchtlingslager zum Norder Stadtteil Tidofeld nach, unterstrich anhand exemplarischer Lebensgeschichten die Bedeutung des Lagerlebens und erläuterte das Konzept der Dokumentationsstätte, das von dem renommierten niederländischen Ausstellungsdesigner Marcel Wouters (Eindhoven) entworfen wurde.

Geschäftsführer Anton Lambertus stellte mehrere Zeitzeugeninterviews in kurzen Videos vor; diese Aufnahmen werden zum Kern der Dokumentation gehören. Beeindruckend wurden schon jetzt beispielhafte Aspekte der beschwerlichen Integration nach dem 2. Weltkrieg lebendig. Während eine Zeitzeugin sich von den Großbauern wie auf dem Viehmarkt begutachtet fühlte – die Vertriebenen wurden offensichtlich auf ihre Verwertbarkeit als billige Arbeitskraft reduziert – , berichteten andere von freundlicher Aufnahme und engagierten Hilfeleistungen der einheimischen Bevölkerung.

In einen größeren geschichtlichen Zusammenhang stellte Prof. Dr. Uwe Meiners (Universität Münster / Leiter des Museumsdorfes Cloppenburg) die „schmerzhaften Erinnerungen“ der Flüchtlinge und Vertriebenen. Das Schicksal von 12 Millionen deutschen Zwangsmigranten sei ein besonders bedrückendes Beispiel für eine unmenschliche Vertreibungspolitik, die im 20. Jahrhundert weite Teile Europas betroffen habe. Der Begriff „Heimat“ habe angesichts globaler Migrantenströme und wachsender Unbehaustheit in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt längst alle „Heimattümelei“ überwunden – vielmehr gehöre das Ringen um Beheimatung zu den aktuellen Gegenwartsaufgaben, die geplante Dokumentationsstätte verfolge auch insofern zukunftsweisende Aufgaben.

Schließlich untersuchte der Leiter des Osnabrücker Diözesanarchivs und -museums, Dr. Hermann Queckenstedt, den Beitrag der katholischen Kirche zur Integration der Katholiken im Bistum Osnabrück. Der Referent hob anhand ausgewählter Beispiele die bedeutende Integrationsleistung beider christlichen Kirchen hervor. Queckenstedt unterstrich, dass die Gnadenkirche Tidofeld gerade darum in besonderer Weise als Ort einer Dokumentationsstätte geeignet sei.

Nach einem gemeinsamen Imbiss, begleitet von intensivem Gedankenaustausch, stellten Regisseur Dirk Szuszies und Filmemacherin Karin Kaper (Berlin) ihren Dokumentarfilm „Aber das Leben geht weiter“ (2011, 104 Minuten) vor. Dazu waren auch die 79-jährige Mutter der Filmemacherin und deren 85-jährige Schwester angereist. Beide spielen „Hauptrollen“ in der Dokumentation ihrer Reise in die alte Heimat Schlesien, wo sie im ehemaligen Niederlinde (heute Platerowka) auf Edmunda Straub und deren Familie treffen, die ihrerseits aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten auf Anweisung Stalins vertrieben wurden. Der Film schildert auf eindrückliche Weise den Schmerz, aber auch die Versöhnungsbereitschaft und den Friedenswillen aller beteiligten Personen. Am Ende der Vorführung stellten sich die Protagonisten den Fragen des Publikums. Alle waren sich einig, dass dieser Film zu Recht beim 8. Neiße-Filmfestival in Zittau und Görlitz, daraufhin bei Kritikern und Publikum in ganz Deutschland überaus positiv aufgenommen wurde. Bereits 60 Aufführungen liegen hinter den vier Film-Reisenden, etwa 120 weitere sind bereits vereinbart.

Am Ende der intensiven Veranstaltung bedankte sich Dr. Kirschstein noch einmal bei allen, die zum Gelingen des Symposions beigetragen haben. Das „herausragende Ereignis“ mache Mut, den begonnenen Weg zur Einrichtung einer Dokumentationsstätte nun zügig zu Ende zu gehen. Das Gebäude der Gnadenkirche Tidofeld ist jetzt bestens darauf vorbereitet: Vom neu eingedeckten Dach über die komplette Schallisolierung der Decke, die Farbgebung der Wände, die Wärmeisolierung der Buntglasfenster und die Angleichung des Bodenniveaus bis hin zum Einbau einer Bodenheizung und die Vorbereitung umfassender elektrischer Anschlüsse bietet das Gebäude alle Voraussetzungen, um die geplante multimediale Dokumentation zu beherbergen.