Heute evangelisch sein: "trutzig und protestantisch"

Dornum, 24. November 2016

Superintendent eröffnet die Vortragsreihe zum Jubiläumsjahr

"Liebe zum Protestantismus“ und „Freude an seinen Grundüberzeugungen“: das wünschte sich Superintendent Dr. Helmut Kirschstein in seinem Vortrag zum Reformationsjubiläum. Dass von dieser Einstellung in manchen offiziellen Kampagnen so wenig zu spüren sei, mache ihn traurig, ja „wütend“. In der Dornumer St. Bartholomäuskirche eröffnete er mit dieser kritischen Bestandsaufnahme die Vortragsreihe des Kirchenkreises Norden, die sich durch das gesamte Jubiläumsjahr ziehen wird. Die Auftakt-Veranstaltung stand unter der Frage „Was heißt Evangelisch-sein heute?“

Rund 30 Besucherinnen und Besucher aus verschiedenen Gemeinden des Kirchenkreises waren dazu nach Dornum gekommen. Sie erlebten einen spannenden Abend, der Grundgedanken des Protestantismus und aktuelle Bezüge immer wieder durch lutherische Choräle kommentierte. Dabei ging es durchaus „trutzig und protestantisch“ zu, wie Dr. Kirschstein es gleich zu Beginn einforderte: Offensichtlich lege die EKD größtes Gewicht auf die ökumenische Wahrnehmung des Reformations-Jubiläums. Dass dabei die evangelische Hymne „Ein feste Burg ist unser Gott“ in zentralen Gottesdiensten nicht mehr vorkomme, scheine einem Trend zu entsprechen. Indem ständig Luthers Antijudaismus hervorgehoben, vor seiner „Heroisierung“ gewarnt und die Klage über die „Kirchenspaltung“ betont werde, nehme man die „Erschütterung jedes evangelischen Selbstwertgefühls“ in Kauf – „wo es das denn noch geben sollte“. Kritisch fragte der Referent: „Wer mag sich dann noch als evangelischer Christ outen? Mag man dann noch feiern?“

Dass sich der typische Luther-Choral von der „festen Burg“ der tödlichen Bedrohung verdankt, die in der reformatorischen Ursprungs-Situation jahrzehntelang alle Evangelischen mit dem Tode bedrohte, stellte der Superintendent anhand eines geschichtlichen Rückblicks klar. Auch den Vorwurf der „Spaltung“ ließ er nicht gelten: Hätte Luther zu Ablass-Handel und Korruption geschwiegen oder wäre die Unterdrückung der evangelischen Bewegung mit brutaler Gewalt ebenso „gelungen“, wie zuvor gegenüber Waldensern, Katharern und Hussiten, hätte es selbstverständlich keine „Spaltung“ gegeben... Die eigentliche Tragik sah der Superintendent darin, dass die „Auseinandersetzung über die Wahrheit des christlichen Glaubens“ mit Waffengewalt geführt wurde. Nicht die „Spaltung“ an sich stimme ihn traurig, sondern der Umstand, „dass es der Reformation nicht gelungen ist, die ganze Kirche zu durchdringern und zu erneuern“.

Positiv stellte Dr. Kirschstein die fünf protestantischen Grundsätze („Particula exclusiva“) heraus, die nach wie vor das Fundament der evangelischen Lehre beschreiben: „sola scriptura“ („allein die Heilige Schrift“ ist Richtschnur des Glaubens), „sola gratia“ („allein durch Gnade“ rettet uns Gott), „sola fide“ („allein der Glaube“ bringt uns Gott nahe), „solus Christus“ („allein Jesus Christus“ verkörpert Gottes Gnade), „soli deo gloria“ („Gott allein gebührt die Ehre“, auch im kritischen Sinn gegenüber kirchlichen und politischen Führern). Dass die evangelischen Kirchen von Anfang an „volksnah“ gewesen seien, unterstrich der Superintendent im Blick auf Luthers Bibelübersetzung und seine Tischreden, in denen es manches Mal „deftig“ zuging. Hierhin gehöre auch das reformatorische Berufs-Verständnis, das selbst den „kleinen Leuten“ eine besondere Würde zusprach und mit der „Freiheit eines Christenmenschen“ auch die gesellschaftliche Verantwortung einforderte. In dieser Perspektive habe die protestantische Überzeugung vom „Priestertum aller Gläubigen“ eine „klare Tendenz zur Demokratie“ – in der Kirche, wie in der Gesellschaft. Die evangelische Kirche habe sich nach dem 2. Weltkrieg in besonderer Weise zu einer „staatstragenden“ Kirche entwickelt, was sich auch darin dokumentiere, das einschließlich Frank-Walter Steinmeier zehn von zwölf Bundespräsidenten evangelisch (gewesen) seien, und zuvor teils „hohe kirchliche Ämter innehatten“. Entschieden befürwortete Kirschstein die evangelische Kirche als Volkskirche: „Das tut unserem Volk gut.“ Die gegenwärtige Herausforderung bestehe allerdings darin, „populäre Kirche“ (von lat. „populus = Volk“) zu bleiben oder wieder ganz neu neu zu werden.

Einen besonderen Gedankengang widmete der Norder Superintendent dem typisch protestantischen Bildungsverständnis, das schon durch den Reformator Philipp Melanchthon auf „Ganzheitlichkeit“ ausgerichtet gewesen sei. Dazu gehöre von Anfang an die umfassende „Bildung für alle Schichten“ und für „beide Geschlechter“. Selbständig die Bibel lesen zu können, war ein konkretes Ziel dieser Bildungsbewegung. Geistliche Bevormundung und spiritueller Aberglaube sollten dadurch überwunden werden. Melanchthon selbst habe damit der europäischen Aufklärung vorgearbeitet. „Eigenes kritisches Denken ist in der evangelischen Kirche erwünscht!“ In der Konsequenz des reformatorischen Ansatzes sei es folgerichtig, dass Männer und Frauen „in gleicher Weise Zugang zu allen geistlichen Ämtern haben“. Diese Einsicht sei nicht auf den „Zeitgeist“ zurückzuführen, verdanke sich vielmehr „heiligem“ Geist. Die gleichberechtigte Ausübung aller kirchlichen Ämter durch Frauen müsse deshalb auch der römisch-katholischen Kirche gegenüber eingeklagt werden: „Das darf Gott von uns erwarten. Und, egal in welcher Kirche: die Frauen auch.“

Insgesamt plädierte Superintendent Dr. Kirschstein dafür, konfessionelle Differenzen nicht zu „übertünchen“, sich vielmehr den konkreten Herausforderungen zu stellen. Dazu zählte er auch das – aus evangelischer Sicht – problematische Abendmahls- und Amtsverständnis der Katholiken, das „konfessions-verbindenden“ Ehen das Leben schwer mache. Ein „Christusfest“, wie jetzt von den Spitzenvertretern beider großer Kirchen anlässlich des Reformations-Jubiläums proklamiert, sei doch eigentlich jeder Sonntagsgottesdienst, der ohne Eucharistiefeier nach katholischer Regel aber nicht ökumenisch begangen werden dürfe.

Tatsächlich könne aber die gemeinsame Konzentration auf das „solus Christus“ die Ökumene voranbringen, wenn es nicht nur während des Jubiläumsjahrs „500 Jahre Reformation“ in den Mittelpunkt gestellt würde.

Ob derartige Überlegungen heute als Provokation empfunden werden? Superintendent Dr. Helmut Kirschstein scheute davor nicht zurück: Reformation sei „immer provozierend“. Gerade das mache die Protestanten zu interessanten Gesprächspartnern im ökumenischen Dialog.