Projekt Tidofeld: "Zwischen Mut und Wahnsinn"

Norden-Tidofeld, 20. Mai 2014

Mitgliederversammlung Gnadenkirche Tidofeld e.V. feiert gelungenen Start

Vor einem Jahr noch in gänzlich leeren Räumen, jetzt in einem nahezu komplett eingerichteten Museum, das inzwischen etwa 1000 Gäste besucht haben: Dr. Helmut Kirschstein, Vorsitzender des Vereins „Gnadenkirche Tidofeld“, zog am Dienstagabend im Rahmen der Jahreshauptversammlung eine rundum positive Bilanz des letzten Jahres.

Gleichwohl machte er vor weniger als der Hälfte der 44 Mitglieder klar, dass 2013 sehr turbulent verlaufen ist. Der Druck, die Dokumentationsstätte wegen der zugesagten Fördergelder unbedingt im gleichen Jahr eröffnen zu müssen, gleichzeitig die Gewissheit, dass das mit dem ursprünglich ausgesuchten Ausstellungsmacher aus den Niederlanden nicht zu verwirklichen sein würde. Die Kündigung, die Suche nach einem neuen Gestalter, der innerhalb weniger Monate das Projekt realisiert: „Wir ließen uns darauf ein. Das liegt irgendwo zwischen Mut und Wahnsinn“, machte Kirschstein deutlich, dass das gute Ende mit der großen Eröffnungsfeier im letzten Jahr im November vorher viel Schweiß und Nerven gekostet hatte.

Inzwischen sei es gelungen, ein festes Team zusammenzustellen, das die täglichen Öffnungszeiten (außer montags) sicherstelle. Aber der Vorsitzende betonte auch, dass er es für unerlässlich hält, weitere Interessierte zu finden, die sich engagieren. Mehr Menschen für die Sache gewinnen – das will der Verein nach Aussage Kirschsteins auf allen Ebenen. Heißt: Mehr Mitarbeiter, vor allem aber erstmal mehr Mitglieder werben und weitere Besucher gewinnen. Ziel seien 2500 Museumsgäste zum Jahresende 2014, gab der Vorsitzende eine Richtungsmarke vor.

Öffentlichkeitsarbeit sei ein wichtiger Schwerpunkt der letzten Monate gewesen, berichtete Kirschstein weiter. Werbung in Schulen und Konfirmandengruppen, in Kirchenkreisen, Vertriebenengruppen, bei den Stadtführern laufe und werde weiter ausgebaut, Aktionen wie im Rahmen einer zweitägigen Radtour im September über den Pilgerweg Schola Dei sind geplant – der Verein hofft so und zusätzlich  durch Flyer und Plakatwerbung,  dass der Ort zunehmend über lokale und regionale Grenzen hinaus bekannt und aufgesucht wird.

Dass sich das Projekt insgesamt bereits einen Namen gemacht hat, wusste Geschäftsführer Anton Lambertus zu berichten. Er erzählte von der Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in Berlin, die an den Aktivitäten in Tidofeld großes Interesse zeige. In Berlin soll ein Ausstellungs-, Dokumentations- und Informationszentrum entstehen zur Geschichte der Vertreibung von Millionen Menschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eröffnet werden soll es 2015.

In Tidofeld ist man offenbar nicht nur in diesem Punkt der Hauptstadt um einiges voraus. Dort sei es offenbar schwierig, Zeitzeugen zu finden, sagte Lambertus. Er selbst hat dagegen mittlerweile Interviews mit 78 Zeitzeugen für das Tidofelder Projekt dokumentiert. „Und das ist noch nicht abgeschlossen“, ergänzte der Geschäftsführer. Den jüngsten Beitrag vom 20. April 2014 stellte er im Rahmen der Versammlung vor. „Es ist jedes Mal eine neue Erinnerung“, waren sich die Zuhörer einig, als sie die Geschichte von Ingeborg Lachmann, die 1942 in Schlesien geboren ist und ab 1946 acht Jahre in Groothusen gelebt hat, gehört hatten. Weitere Dokumentationen sind im Aufbau.

Professor Dr. Bernhard Parisius, wissenschaftlicher Leiter der Dokumentationsstätte, erzählte von 20 Jahre alten Tonbandaufnahmen, die aufbereitet und für das Museum genutzt werden könnten.

Alle vorliegenden Interviews sollen in Zukunft über die Mediathek im Museum genutzt werden können. Hier möchte der Verein die Interviews komplett hinterlegen und Interessierten die Möglichkeit geben, sich intensiver in Biographien einzuarbeiten. Auch ein Schlagwortregister, über das man Zugang zu ausgewählten Stichwörtern erhält, ist geplant. Zudem sollen Interviews auch in schriftlicher Form zur Verfügung gestellt werden.

Finanziell steht der Verein nach Angaben von Schatzmeister Heiko Kremer trotz der riesigen zu stemmenden Baukosten gut da. 409000 Euro seien verbaut worden, zwei Drittel der Summe entfalle allein auf Ausstellungskosten, sagte Kremer – die größtenteils bereits 2012 angefallen seien. Er nannte eine Summe 50000 Euro Baukosten in 2013. Mittlerweile hätten nahezu alle Förderer die zugesagten Gelder angewiesen, sagte Kirschstein. Am Ende blieb laut Kremers Kassenbericht für 2013 ein kleines Plus von gut 470 Euro. Für die Zukunft sei es auch deshalb unbedingt nötig, weitere Mitglieder zu werben, außerdem Spenden und Zuschüsse hereinzuholen, sagte der Schatzmeister. Das wohl auch vor der Idee, dass der Verein gern das angrenzende Grundstück, das der Kirchengemeinde gehört, aber bis Jahresende verkauft werden soll, erwerben möchte, um dort eine typische Baracke aus dem früheren Lager Tidofeld aufzubauen und eventuell Stücke aus Heimatstuben der Vertriebenenverbände aufzunehmen. Die stehen vielerorten vor der Auflösung, weil Mitglieder überaltern und die Stuben nicht mehr weiterführen können.

Über den deutsch-polnischen Jugendaustausch berichtete Zbigniew Kullas. Schon seit fünf Jahren organisiert der Historiker Treffen zwischen Schülern aus Miastko in Polen und Norden, es gab gemeinsame Theaterprojekte in beiden Ländern, außerdem regelmäßige Ausflüge mit Schülern nach Travemünde an die Ostseeakademie, wo die Norder auch das Projekt der Gnadenkirche vorstellen. Dort treffe man regelmäßig viele Besucher aus den Gebieten, die jetzt zu Polen gehörten.

In diesem Herbst werde das Maxim Gorki Theater aus Berlin nach Norden kommen, erzählte Kullas weiter. Anlass sei der 75. Jahrestag nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Eine Woche lang sollen hiesige Schüler die Gelegenheit haben, in Workshops mehr über praktische Theaterarbeit zu erfahren und selbst etwas erarbeiten können. Hintergrund seien immer Zeitzeugengeschichten, in diesem Fall szenische Spiele der Theaterprofis. Das Projekt wird, sagte Kullas, auch von der ostfriesischen Landschaft unterstützt.

 

Veröffentlichung (Text und Foto) mit herzlichem Dank an den OSTFRIESISCHEN KURIER!