"Die angebotene Hand der Geschwister ergreifen"

Großheide, 12. Oktober 2021

Kirchenkreissynode: Rabbiner Dr. Lengyel ringt um Freundschaft zwischen Christen und Juden

Buchstäblich auf Augenhöhe: Rabbiner Dr. Gabor Lengyel im Gespräch mit dem evangelisch-lutherischen KKV-Mitglied Herma Heyken vor dem Altar der Großheider Christuskirche

1700 Jahre jüdisches Leben auf dem Gebiet des heutigen Deutschland: Ein Edikt des Kaisers Konstantin belegt für das Jahr 321 die Existenz einer jüdischen Gemeinde in Köln. Dieses Datum markiere „einen elementaren Beitrag zur Entstehung deutscher Kultur“ noch vor deren eigentlichem Anfang, sagte Dr. Helmut Kirschstein zur Eröffnung der Norder Kirchenkreissynode. Zur Würdigung des „unübersehbaren“ Ereignisses begrüßte der Superintendent „einen der bedeutendsten Vertreter des europäischen wie des deutschen Judentums“: Dr. Gabor Lengyel, Rabbiner der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover, sprach vor den rund 50 Delegierten über seine persönliche Einschätzung des christlich-jüdischen Dialogs.

In einem halbstündigen Vortrag erzählte der Geistliche zunächst aus seinem bewegten Leben. „Ich bin Shoah-geschädigt“: gegen Kriegsende wurde die Mutter des damals Dreijährigen ins KZ Ravensbrück deportiert – er sah sie niemals wieder. Sein Vater überlebte das KZ, konnte selbst aber nie über die traumatischen Erfahrungen reden und starb früh. Im Zuge des Aufstands gegen die kommunistische Diktatur floh der Jugendliche 1956 aus seinem Heimatland Ungarn nach Israel und lebte dort in einem Jugenddorf, bis er 1965 zur völligen Überraschung seiner Freunde ein Stipendium des DAAD annahm und in Braunschweig Maschinenbau und Fabrikmanagement studierte. Damals sprach Gabor Lengyel noch kein Wort Deutsch – das änderte sich freilich schnell: Seit 40 Jahren ist Gabor Lengyel im christlich-jüdischen Dialog aktiv, seit etwa 6 bis 8 Jahren auch stark am islamisch-jüdischen Dialog beteiligt.

Eine besondere Vertiefung ins Judentum nahm er als Herausforderung im Ruhestand an – und studierte in Budapest 6 Jahre lang jüdische Religion, ließ sich in Berlin am neuen Seminar für das Reformjudentum zum Rabbiner ausbilden und schrieb schließlich noch seine Doktorarbeit – auf Deutsch. Als langjähriger Vorsitzender der kleinen jüdischen Gemeinde in Braunschweig hatte Dr. Lengyel die liberale Gemeinde in Hannover mitgegründet, laufend hält der mittlerweile 80-jährige Vorträge und Seminare. Der christlich-jüdische Dialog, der auf´s Ganze gesehen doch nur von wenigen betrieben werde, sei ihm ein Herzensanliegen: „Wir möchten den Willen unsres Vaters im Himmel erfüllen, indem wir die uns angebotene Hand unsrer christlichen Brüder und Schwestern ergreifen.“

Es sei „klar“, dass Christen in Deutschland weit mehr Kontakte zu Juden suchten, als in anderen europäischen Ländern. Es gebe „unheimlich viele Erfolge“ in diesem Dialog und „viele, viele Fortschritte“ – und doch erreiche man trotz des Einsatzes von Aktion Sühnezeichen und der Möglichkeit zum Studium in Israel immer noch viel zu wenig jüngere Menschen.

Dr. Lengyel, der u.a. zum Hannoverschen Landesbischof Ralf Meister ein freundschaftliches Verhältnis pflegt, hält mit Kritik an christlich verbrämtem Antisemitismus nicht hinter dem Berge, äußerte sich etwa im Jubiläumsjahr 2017 scharf gegen Äußerungen Martin Luthers, sieht durch solche Kritik die christlich-jüdischen Beziehungen aber keinesfalls beeinträchtigt: „Wir müssen auf Augenhöhe miteinander sprechen“ – und das bedeute nicht nur eine Einbahnstraße, auch Christen müssten in der Lage sein, Kritik an jüdischen Lebensäußerungen zu üben: „Ich erwarte das, wenn wir echte Freunde sind!“ Zu dieser Freundschaft gehöre auch, dass Christen nicht länger „einen Bogen machen“ um „schwierige“ Texte des Alten Testaments, wenn also bspw. im 5. Buch Mose im Zuge der Eroberung des Landes Kanaan durch Israel von der Vernichtung ganzer Völker im Namen Gottes gesprochen werde. „Ist das nicht eine Vorlage für den IS?“ fragte der Rabbiner selbstkritisch: „Ich hadere mit diesen Texten und suche Antworten.“

Antworten auf zahlreiche Fragen suchte der vitale Geistliche („ich bin 80 Jahre jung und fühle mich auch so“) dann im unmittelbaren Dialog mit Kirchenkreisvorstands-Mitglied Herma Heyken: Die Norderin hatte den Kontakt vermittelt und betreute den Gast während seines Aufenthalts in der Küstenstadt. Ob es denn schwierig sei, auf seinen zahlreichen Reisen „koscher“ zu essen? Nein, denn mit anderen Vertretern des modernen, auch orthodoxen Judentums reiche ihm zu Hause die Trennung von „Milchigem“ und „Fleischigem“ im Kühlschrank, und unterwegs gebe es irgendwo immer ein Käsebrot. Interessant: Fleischiges kaufe er „halal“ beim Türken, und längst sei der Begriff „Öko-Kashrut“ geläufig, der sich etwa auf ökologisch verträgliche Produktion beziehe und darauf aus sei, die Ausbeutung von Arbeitnehmern zu vermeiden.

Auch auf „provokante Fragen“ blieb der Rabbiner keine Antwort schuldig: Ob das Christentum denn eine Weiterentwicklung des Judentums sei – oder ein Ableger? Es gebe 15 Millionen Juden weltweit, so Gabor Lengyel – angesichts mehrerer Milliarden Christen „können wir doch glücklich sein, dass heutzutage unsre christlichen Freunde das Judentum weiterhin beachten und weiterhin davon erzählen“. Er sei froh, es mit Brüdern und Schwestern zu tun zu haben – keinesfalls mit „Ablegern“.

Hart ging Dr. Lengyel dann doch mit der christlichen Geschichte ins Gericht, die nicht nur dem Neuen Testament, sondern einer lange verbreiteten Lehre erlaubte, die regelrechte Ablösung des Judentums zu propagieren: „Demnach wären wir Juden passé“, diese Auffassung habe sich bis in die Shoah hinein verheerend ausgewirkt. Diese Einsicht bedeute aber nicht, Christen den Mund zu verbieten, selbstverständlich dürften auch Deutsche die israelische Regierung und ihre Politik kritisieren („ich gebe zu: das ist sehr schwierig“). Gabor Lengyel selbst sieht sich keiner politischen Instanz gegenüber verpflichtet: Er spreche aus, was ihm am Herzen liege, das sei für ihn kein Problem „in meinem jugendlichen Alter und mit meiner Lebensgeschichte“.

Noch einmal betont er: Streit gehöre zum Judentum, und Streit sollte auch im Dialog nicht vermieden werden: „Falsche Harmonie bis hin zum Opportunismus führt in die Apathie“, warnt der Gelehrte. Allerdings komme es darauf an, sich einer „fairen Sprache“ zu befleißigen.

Für den „normalen Juden“ spiele Jesus übrigens „absolut keine Rolle“. Aber nicht ungern scheint Lengyel einen jüdischen Gelehrten des letzten Jahrhunderts zu zitieren: „Jesus ist möglicherweise der größte Humanist aller Zeiten.“ Eine „bedeutende Persönlichkeit“ sei er allemal. Mit Shalom Ben Chorin: „Der Glaube von Jesus eint uns. Der Glaube an Jesus trennt uns.“ Und etwas verschmitzt: Beide Religionen erwarteten den Messias. „Ihr habt den Vorteil, dass Jesus schon als Messias gekommen ist.“

Schließlich noch die Frage, was er als Jude uns Christen ins Stammbuch schreiben würde, damit wir es unseren Kindern ins Stammbuch schreiben könnten?! Dr. Gabor Lengyel überlegt eine Weile. Dann kommt er noch einmal auf seine enge Zusammenarbeit mit dem neuen Islam-Kolleg in Osnabrück zurück und erinnert an sein „Tandem“-Projekt, bei dem er als „Senior-Rabbi“ zusammen mit einem islamischen Junior-Wissenschaftler Schulen besuche, um gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit – für Toleranz und Demokratie zu arbeiten („ein riesiger Erfolg!“): „Achte auf den Anderen!“ würde er ins Stammbuch schreiben. Und: „Denke daran, dass du in deiner Religion auf keinen Fall die einzige Wahrheit besitzt. Sonst landest du im Fundamentalismus!“

Auch Superintendent Dr. Kirschstein hatte bei seiner Einleitung zur Demut gemahnt: „Menschen sind wir, Christen wie Juden. Menschen, die vor dem Angesicht Gottes stehen, der nicht den Namen ansieht, sondern das Herz. Seiner Güte haben wir es zu verdanken, dass wir uns heute im Namen der Mitmenschlichkeit und der Menschenwürde versammeln und begegnen dürfen.“