75 Jahre Vertriebenenlager: "Es war Heimat für mich"

Norden-Tidofeld, 01. Juli 2021

Tidofeld virtuell: Corona verbannt Sonderausstellung ins Internet - Zahlreiche neue Exponate

In diesem Frühjahr jährte sich die Gründung des ehemaligen Vertriebenenlagers Tidofeld zum 75. Mal. Aus diesem Anlass hatte die Dokumentations- und Begegnungsstätte die Sonderausstellung „Es war Heimat für mich“ vorbereitet. Als sich abzeichnete, dass die wegen der Corona-Beschränkungen nicht wie geplant durchgeführt werden konnte, tat sich das Team um ihren pädagogischen Leiter Lennart Bohne mit Günter Wrobel vom Norder Medienzentrum zusammen, um eine Online-Präsentation zu erarbeiten.

Selbst wenn Besuche vor Ort inzwischen wieder möglich sind, lohnt sich der Blick ins Internet trotzdem allemal. Einerseits gewährt er einen sehr umfassenden Einblick in die Geschichte des Lagers. Anderseits haben die Recherchen viele neue Erkenntnisse und auch einige bisher unbekannte historische Dokumente zutage gefördert.

Die Ausstellung gliedert sich in vier Schwerpunkte. Ein Kapitel beschäftigt sich mit der Zeit vor 1946. Ende der 1930er Jahre enteigneten die Nationalsozialisten das im Besitz der Familie zu Inn- und Knyphausen befindliche Terrain, um dort ein Durchgangs- und Ausbildungslager zur Koordinierung von Truppenbewegungen einzurichten. Was für weite Kreise das gezogen hat, verdeutlicht eine neu hinzugekommene Bilderserie. Sie zeigt einen aufwändig inszenierten Parademarsch, mit dem im August 1943 die Vereidigung niederländischer Soldaten groß gefeiert wurde.

Anfang Mai 1945 übernahmen die britisch-kanadischen Alliierten dann das Kommando und funktionierten Tidofeld in ein Entlassungslager für deutsche Kriegsgefangene um. Während dieser Zeit entstand das vermutlich erste Kinderbuch der deutschen Nachkriegsära. Werner Klemke, der später als Grafiker und Illustrator in der DDR Karriere machen sollte, produzierte während seiner Internierung im Sommer 1945 in der Lithographie-Werkstatt per Steindruck 15 Exemplare der Geschichte von den Bremer Stadtmusikanten. Eines davon gehört zum Bestand der Dokumentationsstätte und kann jetzt auch im Netz virtuell durchblättert werden.

Zweites Schwerpunktthema der Ausstellung ist die Vertreibung der Menschen aus den Ostgebieten und deren Ankunft in Tidofeld. Die ersten Flüchtlinge trafen bereits im Herbst 1944 in Ostfriesland ein. Sie sollten mit dafür sorgen, dass allein Nordens Bevölkerung von knapp 12.500 in den Jahren 1937 bis 1947 auf über 18.000 wuchs. Eine Einquartierung in Privathaushalte, wie sie die Alliierten ursprünglich vorhatten, war auf die Dauer nicht realisierbar. Notgedrungen mussten alle zur Verfügung stehenden Gebäude wie Schuppen, Keller, Nissenhütten, Stallungen oder Baracken zu primitiven Behelfsheimen umfunktioniert werden.

Der Leiter der Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld, Lennart Bohne (rechts), und Günter Wrobel vom Norder Medienzentrum haben die virtuelle Ausstellung mit ihren Teams erarbeitet.

Das dritte Kapitel der Ausstellung widmet sich dem Lagerleben und schildert, wie die Vertriebenen zu einer Gemeinschaft zusammenwuchsen. Ein wichtiger Bezugspunkt war ein von der lutherischen Kirche eingerichteter Raum, den nicht nur Lutheraner, sondern auch Katholiken und Baptisten regelmäßig für ihre Gottesdienste nutzten. 1951 bekamen sie eine Glocke gespendet, die mit einer ökumenischen Prozession eingeweiht wurde. Ein weiteres neues Dokument in dem Zusammenhang ist ein Foto des damaligen Landesbischofs Hans Lilje bei einem Besuch in Tidofeld. Auf seine Vermittlung hin war die Spendenaktion initiiert worden.

Darüber hinaus gab es verschiedene Geschäfte wie zum Beispiel eine Fleischerei, einen Gemüsehandel, eine Bäckerei und eine Drahtzaunfabrik, die teilweise als Ausbildungsbetriebe fungierten und in denen bald auch Kunden von außerhalb des Lagers einkauften.

Das bildet gleichzeitig schon die Überleitung zum vierten Teil der Ausstellung. Er widmet sich der Entwicklung vom Barackenlager zum Stadtteil Tidofeld. Und die ist „im Vergleich zu den meisten anderen damaligen Flüchtlingslagern in Deutschland durchaus ungewöhnlich“, wie Lennart Bohne hervorhebt. Die Vertriebenen bildeten einen Lagerrat und verschafften sich darüber in der Norder Politik Gehör, so dass man sie aktiv in die Siedlungspolitik einband.

Zu Beginn des Jahres 1958 wurde den Kommunen vom Land das letzte Barackenräumungsprogramm auferlegt. Die Stadt Norden wollte die Siedlungsgebiete und Bauland eigentlich erst in anderen Stadtteilen ausschreiben, scheiterte jedoch am Widerstand der Lagerbewohner. Die hatten mehrheitlich beschlossen, in Tidofeld zu bleiben und konnten den Rat der Stadt Norden schließlich überzeugen. Der Lütetsburger Fürst zu Inn- und Knyphausen – seit jeher rechtmäßiger Eigentümer des Gebietes – kam den Vertriebenen entgegen, indem er ihnen günstige Konditionen zum Erwerb von Bauland gewährte. Daraufhin wurden bis 1962 die ersten 111 Siedlungshäuser errichtet. Parallel dazu eröffnete sich auch für Menschen, die nicht im Vertriebenenlager gelebt hatten, die Chance, dort zu bauen. Auf diese Weise entstand aus einem Barackenlager für Flüchtlinge aus den ehemaligen Ostgebieten ein Stadtteil der ostfriesischen Küstenstadt.

  • Die virtuelle Ausstellung „Es war Heimat für mich“ findet man unter www.vertriebenenlager-tidofeld.de. Besuche der Dokumentationsstätte sind wieder möglich, allerdings nach wie vor nur in begrenztem Rahmen. Daher ist eine Voranmeldung erforderlich, entweder telefonisch (0 49 31 / 97 55 335) oder per E-Mail (info@gnadenkirche-tidofeld.org). Weitere Details und aktuelle Informationen sind nachzulesen auf der Internetseite www.gnadenkirche-tidofeld.org.

[ Mit herzlichem Dank an die OSTFRIESEN-ZEITUNG ! ]