Tidofeld: Musik als Heimat - offen für alle Menschen

Norden-Tidofeld, 03. Oktober 2021

Bewegender "Tag der deutschen Einheit" mit Aeham Ahmad, "Pianist aus den Trümmern"

Beeindruckende Veranstaltung zum "Tag der deutschen Einheit": Als "Menschenrechtler, Künstler, Mitmensch" begrüßt Superintendent Dr. Helmut Kirschstein den syrisch-palästinensischen Flüchtling Aeham Ahmad zum Nationalfeiertag in der Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld. Ziel sei es, die Herausforderung der Integration und die Bedeutung der Willkommenskultur für ein "buntes Deutschland" zu feiern, wie Kirschstein als Vorsitzender des Tidofelder Vereins betont. Rund 70 Personen - der 2G-Regel ensprechend - haben sich im Saal eingefunden und folgen gebannt der Vorstellung und dem Konzert des jungen Migranten.

Durch Youtube war Aeham Ahmad 2014/15 als "Pianist aus den Trümmern" weltweit  bekannt geworden. Er hatte sich dem Krieg im völlig zerstörten Flüchtlingslager Jarmuk vor den Toren von Damaskus entgegengesetzt, indem er bei den eingeschlossenen Menschen aushielt und sein Klavier inmitten der Verwüstung für Straßenkonzerte nutzte. Umgeben von Hunger und traumatisierender Gewalt singt und spielt der studierte Pianist unbeugsam für die Menschen und für die Menschlichkeit, setzt die Kultur gegen den Bombenhagel, stiftet Hoffnung gegen alle Ausweglosigkeit.

All das präsentiert mit Originalaufnahmen und späteren, nachdenklichen Interpretationen zunächst ein halbstündiger Dokumentarfilm, der dem ZDF zu verdanken ist. Schon als Aeham Ahmad 2015 unter dramatischen Umständen die Flucht gelingt und er nach großen Strapazen über die Balkanroute in Deutschland ankommt, ist er kein Unbekannter mehr: Noch im selben Herbst verleiht ihm die Stadt Bonn den gerade erst gestifteten Internationalen Beethovenpreis für Menschenrechte, Frieden, Freiheit, Armutsbekämpfung und Inklusion für seinen "großartigen Einsatz". In Deutschland tritt er bald mit bekannten Musikern wie den "Sportfreunden Stiller" und Judith Holofernes (Band "Wir sind Helden") auf - auch mit Herbert Grönemeyer, der ihm ein ein transportables E-Piano schenkt. Auf diesem Instrument spielt Aeham Ahmad nun am Tag der deutschen Einheit in Tidofeld, "unplugged" auf seinen Knieen - und wie!

Sein Vortrag ist so ungewöhnlich wie dynamisch, er kombiniert Melodien aus der europäischen Klassik mit orientalischen Klängen, flechtet hier und da ein deutsches Volkslied ein, wechselt von besinnlichen Passagen zu aufrüttelndem Forte. Dazu seine Stimme: Mal säuselt er im hohen Falsett, dann hält er eine Hand vor den Mund und imitiert ein Instrument, kehlige arabische Laute manifestieren seine Herkunft. Anspruchsvolle Arpeggien lassen die Ausbildung an der Akademie in Homs erkennen, mitreißender Rhythmus erinnert eher an Straßen-Gangs und amerikanischen Rap, alles wirkt authentisch in der Person dieses 31-jährigen vereinigt.

Ganz große Gefühle werden bewegt, als Aeham Ahmad plötzlich auf deutsch "Die Gedanken sind frei" anstimmt und sein Publikum zum Mitsingen animiert. Ein populär gewordenes Befreiungslied aus dem Kampf gegen Restauration und Unterdrückung im Deutschland des 19. Jahrhunderts, vorgetragen von einem Migranten und musikalischen Freiheits-Apostel der Gegenwart: das geht den Besuchern zu Herzen. Als der Künstler zum Mitsummen weiterer Melodien und Akkorde motiviert, klingt es vierstimmig durch den Raum der Austellung zu Flucht, Vertreibung und Integration...

Spürbar ergriffen, äußern viele Gäste ihren Respekt, ihre persönliche Hochachtung. Wie es wohl sein kann, dass er als ein fröhlicher Mensch hier stehe angesichts so viel erfahrenen Elends, lautet eine Frage. Er habe seine Traumata bearbeitet, sagt Aeham Ahmad, dazu habe seine Autobiographie beigetragen (2017 erschienen im Fischer-Verlag: "Und die Vögel werden singen"), aber auch die Musik helfe ihm sehr dabei. Palästinenser unterschiedlicher Couleur hätten versucht, ihn für ihre Richtung zu vereinnahmen, etwa für den gewaltsamen Kampf für ein "freies Palästina" - aber der junge Mann bleibt der Gewaltlosigkeit treu. Wie schon in Jarmuk ginge es überall auf der Welt darum, Brücken zwischen den Menschen und Kulturen zu schlagen, sagt Aeham Ahmad. Für ihn persönlich sei "Musik" seine Heimat - wo immer er auf einem Klavier spielen könne, fühle er sich zu Hause. Gleichwohl zeigte sich Aeham Ahmad voller Vorfreude auf den Tag, an dem er die deutsche Staatsbürgerschaft erhalte: "Das ist schon bald. Und bis dahin lerne ich noch besser Deutsch!"

Tief bewegt zeigte sich am Ende des ereignisreichen Abends Landrat Olaf Meinen (Aurich), der - wie auch Nordens scheidender Bürgermeister Heiko Schmelzle - der Veranstaltung beiwohnte. Er habe sich an die "Gänsehautmomente" beim Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 erinnert gefühlt - eine solche "Gänsehaut" habe ihn am heutigen Abend beschlichen. Meinen dankte dem Künstler in warmherzigen Worten - und schloss in diesen Dank die Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld ein: Einen besseren Veranstaltungsort hätte man sich nicht vorstellen können. Meinen sagte dem Trägerverein und den Verantwortlichen seine persönliche Unterstützung wie diejenige des Landkreises Aurich zu. Und hoffte auch weiterhin auf ebenso tatkräftige Unterstützung durch die Stadt Norden.