Wenn die Schere immer weiter auseinander geht...

Norden, 14. Juli 2021

Zunehmende Armut Thema in der Kirchenkreiskonferenz – Birgit Wellhausen (DwiN) referiert

Zum ersten Mal seit März 2020 traf sich die Kirchenkreiskonferenz wieder „real präsent“ im Raum. Im Saal des Ludgeri-Gemeindehauses ging es um ein Thema, das durch „Corona“ an Brisanz gewonnen hat. Denn die „relative Armut“ hat während der letzten zwei Jahre in Niedersachsen nachweislich zugenommen, wie Birgit Wellhausen vom Diakonischen Werk evangelischer Kirchen in Niedersachsen (DwiN) anhand aktueller Daten erläuterte.

Rund 20 Pastorinnen und Pastoren, Diakoninnen und Diakone folgten den kompetenten Ausführungen der Referentin, die in Hannover den Bereich "Soziale Beratung und Gemeinwesenarbeit" leitet. Dabei ist die studierte Sozialwissenschaftlerin für Fragen von Flucht und Migration, Herausforderungen der Sucht-, Straffälligen- und Familienhilfe ebenso zuständig wie für die Themen Armut und das sozialdiakonische Engagement Ehrenamtlicher.

Da „relative Armut“ in Deutschland – anders als die lebensbedrohliche „absolute“ Armut in den Ländern der sog. Dritten Welt – den „Mangel an Mitteln zur Sicherung des Lebensstandards und zur Teilhabe in einer Gesellschaft“ meint, kreisten Vortrag und Diskussion schnell um die zunehmende Zahl von Menschen, die immer deutlicher „abgehängt“ werden. Jeder sechste gilt in Niedersachsen als „armutsgefährdet“, wobei besonders Frauen, Alleinerziehende und Menschen mit Migrationshintergrund (über 40 %) betroffen sind – Tendenz steigend. Auch die Armut im Alter nimmt zu. Je geringer das Qualifikationsniveau, umso größer die Armutsgefährdung. Beschämend auch die Tatsache, dass Kinder im Haushalt als klarer Risikofaktor gelten. Mehr als jedes 5. Kind, jeder 5. Jugendliche ist arm. Erwerbstätigkeit schützt längst nicht mehr vor Armut, der Hartz-IV-Regelsatz legt den Kommentar nahe: „zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel“. Und bei alledem geht die Schere zwischen relativer Armut und relativem Reichtum immer weiter auseinander.

Aktuell führt die Corona-Pandemie zur Verstärkung all dieser Tendenzen. Wer als Kind in einer bildungsfernen Umgebung zu Hause bleiben muss, bekommt wegen des Schulausfalls womöglich weder genügend Essen, noch bestehen mediale Möglichkeiten, das Home-Schooling zu nutzen, häufig fehlt jede Unterstützung durch die Familie, Resignation greift um sich.

Die bedrückende Faktenlage führte zur Spurensuche in der eigenen Kirchengemeinde. Die Teilnehmer der Konferenz waren sich einig, dass Indizien für Armutsgefährung in der Regel schwer zu erkennen sind. Bei Taufgesprächen oder Trauerbesuchen würden Betroffene alles tun, um ihre Situation besser darzustellen, als sie tatsächlich ist. Es gehöre zum Ringen um die eigene Würde, auf gar keinen Fall einen bedürftigen Eindruck zu erwecken. Selbst von offenen Angeboten der Kirche schließe man sich lieber selbst aus, als beispielsweise am Ende des Seniorenkreises keinen Euro als „freiwilligen“ Beitrag zur Teestunde leisten zu können.

In der Diskussion solcher Phänomene zeigte sich die Notwendigkeit, kirchliche Veranstaltungen zu überprüfen und finanzielle Schwellen noch deutlicher zu vermeiden. Wenig hilfreich sei die typische „Komm-Struktur“ kirchlicher Hilfsangebote. Mittel der Diakoniesammlung für die eigene Gemeinde sollten noch phantasievoller eingesetzt werden, ohne Menschen zu beschämen. Birgit Wellhausen zeigte darüber hinaus Möglichkeiten auf, für diakonische Projekte auf die landeskirchlichen Kollekten zuzugreifen – sie empfahl die Kontaktaufnahme zu den MitarbeiterInnen ihres Hauses.

Das Gespräch zeigte aber auch, in wie vielfältiger Weise die Kirchengemeinden schon jetzt für soziale Teilhabe sorgten. Angebote für Krabbelkreise, Konfirmanden, Jugendliche oder Senioren erreichen die Menschen Milieu-übergreifend, wie auch seelsorgerliche Gespräche aus Anlass von Taufen, Trauungen und Bestattungen das Miteinander stärken und integrativ wirken können. Beispielhaft freute sich die Referentin über ein Projekt der Norder evangelischen Stadtgemeinden, die im Sommer erstmals per Lastenfahrrad eine Gesprächsmöglichkeit „bei Keks und Kaffee“ auf dem Norder Friedhof anbieten werden.